Seine Gemütsverfassung hatte sich auch gebessert, vielleicht hatte er auch nur seinen Pessimismus niedergerungen. Wie dem auch sei, er hatte seinen anfänglichen Widerstand aufgegeben und fügte sich allem, was die Laurentische Armee für ihn vorgesehen hatte. Er sei willens, hatte er mir gesagt, das Amt des Präsidenten zu übernehmen, eine Zeit lang zumindest, allein schon, um einen Bruchteil der niederträchtigen Gemeinheiten rückgängig zu machen, die sein Onkel veranlasst hatte.
Zu seiner Nominierung hatte er selbst nichts beigetragen. Wie auch? Sie war in seiner Abwesenheit erfolgt — und sie war ein Kompromiss gewesen. Die Veröffentlichung meines Manuskripts über den Goose-Bay-Feldzug mag eine Rolle gespielt haben. Deklan Comstock hätte alles darangesetzt, die Nachricht von Julians Überleben zu unterdrücken, aber das hatten die Redakteure des Spark natürlich nicht wissen können; im Gegenteil, sie hatten geglaubt, ihrem Präsidenten einen Gefallen zu tun, indem sie die Heldentaten und Leiden seines Neffen publizierten.
Diese neuen Kriegsberichte hatten mehrere Neuauflagen erlebt und wurden fleißig nachgedruckt. Die amerikanische Öffentlichkeit, zumindest in der östlichen Hälfte des Landes, war geradezu verliebt in Julian Comstock, ihren jugendlichen Nationalhelden; und genauso golden war sein Ruf bei der Laurentischen Armee. In den höheren Rängen des Militärs hatte der Unmut über Deklans Kriegsführung inzwischen seinen Siedepunkt erreicht. Deklan hatte so viele kühne, aber schlecht geplante Feldzüge scheitern lassen und so viele loyale Generäle mit blütenreiner Weste ins Gefängnis gesteckt, dass die Armee beschlossen hatte, ihn zu stürzen und durch jemanden zu ersetzen, der ihre Ziele besser vertrat. Ja, die Veröffentlichung meiner Berichte hatte dazu beigetragen, die schwelende Glut bis zur Weißglut zu schüren.[90]
Alles, was den Putsch gegen Julians Onkel noch hinauszögerte, war die Wahl eines geeigneten Nachfolgers, immer eine heikle Angelegenheit. Woher einen akzeptablen Kandidaten nehmen? Der Sturz eines Tyrannen durch das Militär lässt keine demokratische Wahl zu, und wichtige, konkurrierende Interessengruppen — die Eupatriden, der Senat, das Dominion of Jesus Christ on Earth und in gewisser Hinsicht auch die breite Öffentlichkeit — müssen angesprochen und beruhigt werden.
Die Laurentische Armee konnte diese Bedingungen nicht erfüllen, noch konnte sie ohne weiteres von der Zustimmung ihres fernen Partners, der Kalifornischen Armee, ausgehen, die eher auf das Dominion hörte als auf die östliche Armee. Andererseits waren sich alle einig, dass Deklan der Eroberer nicht mehr tragbar war. Die Lösung, zu der man sich endlich durchrang, war eine Übergangslösung. Der 52. Zusatzartikel zur Verfassung erlaubte die Nachfolge durch Erbfolge zu regeln[91]; und da Deklan kinderlos war, konnte man den Artikel so auslegen, dass die Autorität auf seinen heldenhaften Neffen Julian überging — der derzeit noch in die Belagerung von Striver verwickelt war und die Angelegenheit weder durch Zustimmung oder Ablehnung komplizieren konnte. So wurde Julian zu einer Art Galionsfigur, fast zu einem Symbol, und als solches durchaus tragbar, bis Soldaten den Tyrannen von seinem Thron gestürzt und in einen Kerker im Keller des Palastes gesperrt hatten.
Jetzt, da Julian die Belagerung überlebt hatte und durch den entschlossenen Einsatz von Admiral Fairfield gerettet war, wurde das Symbol auf einmal leibhaftige Wirklichkeit. Wäre Julian im Kampf getötet worden, hätte man eine andere Regelung getroffen, vielleicht zur größeren Zufriedenheit aller. Aber Julian der Eroberer lebte — und der öffentliche Zuspruch war inzwischen so laut, dass es womöglich zu Krawallen gekommen wäre, hätte man ihn nicht zum Präsidenten ernannt.
Aus diesem Grund war er bereits im Hospital auf Neufundland und auf der Heimreise nach New York City von militärischen Beratern, zivilen Ratgebern, klerikalen Kriechern und tausend anderen Drahtziehern und Postenjägern umgeben gewesen. Ich hatte nur wenig Gelegenheit gehabt, mit ihm unter vier Augen zu sprechen, und als wir in Manhattan ankamen, verschwand er sofort in einem Mob aus Senatoren und Soldaten, die mit Bändern geschmückt waren, in Richtung Präsidentenpalast; wir hatten uns weder verabschieden noch verabreden können.
Doch was mich wirklich beschäftigte, war das Schicksal von Calyxa. Im Hospital in St. John’s hatte ich ihr mehrmals geschrieben und einmal sogar telegraphiert, aber keine Antwort bekommen; ich befürchtete das Schlimmste.
Ich kehrte dem Hafen den Rücken und machte mich auf den Weg zum Anwesen von Mrs. Emily Baines Comstock, jenem herrschaftlichen Haus mit seiner rotbraunen Sandsteinfassade, wo ich Calyxa in der Obhut von Julians Mutter zurückgelassen hatte. Es tat gut, das vertraute Gebäude wiederzusehen — es war anscheinend unverändert, eine Wohnstatt so stabil wie eh und je, die Stirn im glühenden Abendlicht von Manhattan und Laternenschimmer hinter den Vorhängen.
Doch als ich mich der Zufahrt näherte, trat ein Soldat aus dem Halbdunkel. »Kein Zutritt, Sir«, sagte er.
Ich war baff; und dann empört, als ich sicher war, den Mann richtig verstanden zu haben. »Gehen Sie mir aus dem Weg. Das ist ein Befehl«, sagte ich, denn meine Colonel-Streifen waren unversehrt und deutlich sichtbar.
Der Soldat erblasste, machte aber nicht Platz. Er war jung, vermutlich frisch einberufen, ein Pächterjunge — nach dem Akzent zu urteilen, aus irgendeinem südlichen Landgut. »Tut mir leid, Colonel, aber ich habe meine Befehle — klipp und klar — ohne Vollmacht kein Zutritt.«
»In diesem Haus ist meine Frau, oder war, oder müsste sie sein — was zum Kuckuck tun Sie hier?«
»Niemand darf das Haus verlassen oder betreten, Sir.«
»Auf wessen Veranlassung?«
»Ekklesiastische Quarantäne, eine gerichtliche Verfügung.«
»Was für ein Zungenbrecher — und wozu das Ganze?«
»Genaues weiß ich nicht, Sir«, gestand der Soldat. »Ich mache das zum ersten Mal.«
»Gut, wer hat Ihnen den Befehl erteilt?«
»Mein vorgesetzter Offizier, Kommandostelle Fifth Avenue. Unmissverständlich, Sir, keine Ausnahme. Aber ich glaube, es hat mit dem Dominion zu tun. ›Ekklesiastisch‹ bedeutet doch ›Kirche‹, oder?«
»Vermutlich … Wer ist in dem Haus, das Sie so unerbittlich bewachen?«
»Nur zwei Frauen.«
Mein Herz überschlug sich, aber ich zeigte mich reserviert. »Ihre gefährlichen Gefangenen sind Frauen?«
»Ich liefere dann und wann Lebensmittelpakete … Frauen, Sir, ja, Sir, eine junge und eine ältere. Ich habe keine Ahnung, was sie verbrochen haben. Sie sehen nicht gehässig aus oder besonders gefährlich; obwohl sie manchmal ein bisschen aufbrausend sind, besonders die jüngere Frau — sie redet kaum, aber wenn, dann beißt sie.«
»Die sind jetzt im Haus?«
»Ja, Sir; aber, wie gesagt, kein Zutritt.«
Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Ich brüllte aus Leibeskräften Calyxas Namen.
Der Soldat zuckte zurück, und ich sah, wie seine Hand an die Pistole griff. »Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist, Sir!«
»Verlangen Ihre Befehle, einem Offizier das Brüllen auf offener Straße zu verwehren?«
»Nicht ausdrücklich, aber …«
»Dann tun Sie das, was Ihre Befehle ausdrücklich verlangen, und bewachen Sie meinetwegen die Haustür, aber dichten Sie nichts hinzu und kümmern Sie sich nicht um das, was auf dem Bürgersteig passiert; die Bürgersteige von New York gehören im Augenblick nicht zu Ihrem Einflussbereich.«
90
Meine Kriegsberichte haben Deklan den Eroberer nicht namentlich erwähnt, geschweige denn kritisiert; aber man konnte aus ihnen ableiten, dass New York den Lake-Melville-Feldzug fehlgesteuert hatte. Ich zitierte in der Tat ein paar zynische Bemerkungen von Julian an die Adresse derer, »die Befehle erteilen, bevor sie nachgedacht haben, und Geschichte machen wollen, ohne sie zu kennen«. Ich dachte, diese Spitze gegen den Präsidenten würde, so vage wie sie war, gar nicht mehr pieksen — ich muss mich wohl geirrt haben.
91
Und nicht etwa der 53., wie man immer wieder hört. Es war der 52. Zusatzartikel, der die Nachfolge durch Vererbung regelte; der 53. war derjenige, welcher das Oberste Bundesgericht abschaffte.