»Ist das nicht ein mildernder Umstand?«
»Nicht in den Augen von Diakon Hollingshead«, sagte Mrs. Comstock. »Parmentierismus kann unter dem bestehenden Regime wohl kaum als Alibi gelten. Ich glaube eher, dass der Diakon uns eigens zu dem Zweck verfolgt hat, etwas gegen uns in der Hand zu haben. Vielleicht hatte er mit Deklan etwas ausgeheckt.«
»Aber Deklan ist abgesetzt, und ihr steht immer noch unter Hausarrest.«
»Diakon Hollingshead ist so einflussreich wie eh und je, und eine gerichtliche Anordnung ekklesiastischer Quarantäne lässt sich nicht so leicht aus der Welt schaffen. Einmal erlassen, klebt sie wie Harz. Wir sind nur hier und nicht im Gefängnis bei all den anderen Aufgegriffenen, weil Calyxa schwanger ist und ich eine Comstock bin.«[92]
»Julian bringt das in Ordnung.«
»Davon gehe ich aus«, sagte Mrs. Comstock, »sobald er es erfährt. Er wird nicht leicht zu erreichen sein, jetzt, wo er sich im Regierungspalast verschanzt.«
»Ich werde schon zu ihm durchkommen.«
»Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Julian hat es nie versäumt, mir Weihnachten Gesellschaft zu leisten, wenn er in Manhattan war, und ich bin sicher, er wird dieses Jahr nach mir schicken. Und Calyxa wird nicht vor April niederkommen, was bedeutet, dass Hollingshead uns bis dahin in Frieden lässt. Nein, Adam, ich hätte einen anderen Auftrag für Sie, falls Sie so nett wären.«
Ich konnte unmöglich ablehnen, obwohl eine Überraschung die andere jagte und ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand.
»Mein Auftrag«, sagte Mrs. Comstock, »betrifft Sam Godwin.«
»Sam! Seit Labrador habe ich Sam nicht mehr gesehen. Er wurde mit einer Verletzung nach Hause geschickt. Wir haben uns im Militärhospital in St. John’s nach ihm erkundigt, aber die hatten ihn längst nach New York überwiesen. Wie geht es ihm denn? Ich würde ihm zu gerne die Hand schütteln.« Die eine, die er noch hat, dachte ich bei mir.
»Ich habe auch Erkundigungen eingeholt«, sagte Mrs. Comstock, »und weiß, dass er heil hier angekommen ist und ein paar Tage im Soldiers’ Rest verbracht hat, aber er wurde entlassen — und ist spurlos verschwunden; zumindest hat er nichts von sich hören lassen. Das sieht ihm gar nicht ähnlich, Adam.«
Da musste ich ihr Recht geben. »Vielleicht kann ich ihn finden und das Geheimnis lüften.«
»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen.« Sie strahlte. »Danke, Adam Hazzard.«
»Nichts zu danken. Aber was machen wir mit der Wache? Der Soldat wird bald zurück sein, und ich darf nicht bleiben.«
»Keine Sorge — der Junge ist harmlos, und ein bequemeres Gefängnis kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Einmal draußen, ist es vielleicht nicht wieder so einfach, hier reinzukommen«, sagte ich. Der Gedanke, auf unbestimmte Zeit von meinem Ehebett getrennt zu sein, gefiel mir überhaupt nicht. Das war grausam, wenn nicht unüblich.
»Wohnen Sie im Soldiers’ Rest, wenn es sein muss, und nehmen Sie fürs Erste Abschied von Calyxa. Weihnachten sind wir wieder beisammen, ganz bestimmt.«
»Willkommen daheim, Adam«, fügte Calyxa hinzu und umarmte mich; wir tauschten wieder Zärtlichkeiten aus, bis Mrs. Comstock sich räusperte und die Augen verdrehte. Ich musste gehen — leider.
Der Soldat kehrte gerade zurück, als ich in die feuchte Dezemberluft trat. »Danke, Colonel«, rief er. »Ein gutes Essen, alles was Recht ist, und frohe Weihnachten.«
»Und behalten Sie mir das Haus im Auge«, entgegnete ich auf der letzten Stufe. »Lassen Sie da keine Bösewichter rein.« Ich verbrachte die Nacht im Soldiers’ Rest in der Nähe des Hafens. Mein Rang berechtigte mich zu einer entsprechend besseren Unterbringung und Verpflegung, was auf ein Kabuff mit aufgebockter gelber Matratze und fadenscheiniger Decke hinauslief; die Flöhe tanzten vor Vergnügen und speisten nach Belieben, während ich zu schlafen versuchte. Beim ersten Licht des neuen Tages war ich aus dem Bett und nicht viel später draußen.
Sam Godwin war also in New York, oder vor kurzem gewesen, so viel stand fest. Ich marschierte zum Regimentshauptquartier, und der dortige Verwaltungsbeamte schlug ein großes Buch auf, das sagte, Sam Godwin sei als verwundeter Veteran entlassen worden; es führte eine New Yorker Adresse auf, wohin Post nachgeschickt werden konnte.
Die Wohnung lag in einer verrufenen Gegend in der Nähe des Einwandererviertels. Ich machte mich sofort auf den Weg. Die Häuser dort waren hauptsächlich Fachwerkbauten, Schulter an Schulter, die meisten in kleine Mietwohnungen aufgeteilt, hier und da eine Taverne, ein Haschischlokal oder eine Spielhölle, in der entwurzelte Männer »gleich nebenan« ihrem Laster frönen konnten. Aus jedem Schornstein quoll Rauch, denn der Tag war kalt. Der Gedanke an die vielen Kohlenroste und Holzöfen machte mir Angst, denn diese Häuser waren kaum mehr als Kulissen aus Zunder und Packpapier.
Ich pochte an eine klapprige Tür, und nach einer Weile machte eine ältere, mit Pockennarben gestrafte Frau auf. Als ich nach Sam Godwin fragte, sagte sie: »Kenne ich nicht.« Doch ich bedrängte sie mit einer Beschreibung und erklärte Sam zu meinem Freund, bis sie schließlich nachgab und mir den Weg zu einem Zimmer im Obergeschoss zeigte, das am Ende eines düsteren Flurs lag.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Sie aufstoßen, eintreten und Sams Namen rufen war eins.
Er schlief auf einem schmalen Bett, das nicht komfortabler war als meine Schlafstatt im Soldiers’ Rest. Er trug ein zerlumptes Hemd und hatte sich mit einem alten Mantel zugedeckt. Selbst im Schlaf war sein Gesicht abgehärmt und voller Kummer. Das Haar war schütterer, als ich es in Erinnerung hatte, der Bart ungekämmt und fast völlig weiß. Der linke Arm lag unter ihm, fest an den Bauch gedrückt, wie um die fehlende Hand warmzuhalten.
Am Boden neben dem Bett stand eine Flasche; auf dem zerschundenen Nachttisch lag eine langstielige Pfeife, daneben stand ein Holzkästchen, darin befanden sich ein paar Krümel getrockneter Hanfblüte.
Ich setzte mich auf die Bettkante. »Sam«, sagte ich. »Sam, wach auf, wenn du mich hören kannst. Ich bin es — Adam Hazzard.«
Nach ein paar Wiederholungen rührte er sich endlich. Er stöhnte und wälzte sich auf den Rücken und seufzte und öffnete vorsichtig ein Auge, als erwarte er schlechte Neuigkeiten. Die Sinnesreize schienen sein Inneres nach und nach zurückzuerobern, bis er sich schließlich unter Ächzen und Mühen aufsetzte. »Adam?«, murmelte er heiser.
»Ja, Sam — ich bin es.«
»Adam — oh! Ich dachte erst, wir wären in Labrador — ist das Artilleriefeuer?«
»Nein, Sam. Das ist New York City, allerdings keine besonders attraktive Gegend. Was du hörst, sind die Fuhrwerke unten auf der Straße.«
Er starrte mich abermals an, während ihm einiges dämmerte. »Adam! Aber du bist doch in Striver geblieben. Du und Julian. Die Basilisk hat mich mitgenommen …«
»Sie hat uns auch mitgenommen, Sam, ein paar Wochen später, nach viel Wirbel und Blutvergießen.«
»Ich dachte …«
»Was?«
»Die Lage war hoffnungslos. Wir sollten abgeschlachtet werden, und Striver schien der Schlachthof zu sein. Ich dachte …«
»Wir wären nicht mehr am Leben?«
»Ihr wärt nicht mehr am Leben, ja, und ich hätte versagt, weil ich Julian im Stich gelassen hatte.«
»Hast du dich deswegen hier verkrochen? Aber wir leben, Sam! — Ich lebe, und Julian lebt. Hast du keine Zeitung gelesen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann Wochen her sein. Du willst sagen, dass Admiral Fairfield die Divisionen in Striver verstärkt hat?«
»Ich will sagen, dass Deklan Comstock nicht mehr Präsident ist! Hättest du deinen Kopf mal gelüftet, hättest du vielleicht die Laurentische Armee marschieren sehen, die ihn ruckzuck abgesetzt hat!«
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Das Gesetz, das Schwangere vor der Untersuchungshaft und vor der strafrechtlichen Verfolgung wegen erwiesener Verbrechen bewahrt, stammt noch aus der Ära der Kinderlosigkeit. Über viele Jahre nach dem