Julian winkte ab. »Ich bin der Neugierige«, sagte er. »Und ich bin der Letzte, den Diakon Hollingshead verhaften würde. Vielleicht können Adam und ich die Kirche aufsuchen — mit so viel Gardisten, dass wir rechtzeitig gewarnt werden, falls das Dominion irgendwelche Tricks versucht.«
»Das ist trotzdem riskant«, sagte Sam.
»Hast du Angst vor Hollingshead, Sam, oder vor dem charismatischen Mr. Stepney?«
Sam reagierte nicht auf Julians Unverschämtheit, er verfiel in brütendes Schweigen.
»Der Ausflug könnte spannend sein«, meinte Julian. »Kommst du mit, Adam? Sagen wir, morgen?«
Ich war einverstanden. Im Grunde interessierte mich Pastor Stepneys Freikirche nicht besonders. Aber mich interessierte, warum Julian sich dafür interessierte.
»Stepney ist genau der Typ, der Julian neugierig macht«, sagte Calyxa, als ich zu ihr ins Bett kletterte. Märzböen rüttelten an den großen Schlafzimmerfenstern, und es tat gut, sich unters dicke Federbett zu kuscheln, den Arm um Calyxa gelegt. »Bestimmt genauso ein Betrüger wie die meisten von diesen selbst ernannten Pastoren, und seine Ideen interessieren mich nicht. Aber er war großzügig zu den Parmentieristen, die sich in seiner Kirche trafen, und er textete sie zu, was immer ich zufällig mitbekam. Nicht der übliche kleinkarierte Fanatismus. Viel über Zeit und Evolution und solche Sachen, von denen auch Julian so gerne faselt — der Mann ist so eloquent wie ein Aristokrat.«
»Für Julian ist das eher Philosophie als Gefasel«, sagte ich.
»Mag sein. Egal, es ist dünne Schleimsuppe für eine Frau, die schuften muss, oder einen Mechaniker, der einen Missstand zu beseitigen hat. Komm, nimm mich in die Arme, Adam — mir ist kalt.«
Ich tat, worum sie mich bat, und wir wärmten einander. Nachdem seine Kirche im Einwandererviertel beschlagnahmt und verkauft worden war, hatte Pastor Stepney sein Unternehmen ins Dachgeschoss eines heruntergekommenen Lagerhauses an einem Kanal von Süd-Manhattan verlegt. Als gewöhnliche Arbeiter verkleidet, stiegen Julian und ich allein die Holztreppe zum Dachboden hinauf, während sich draußen Gardisten in Zivil aufhielten, die uns warnen würden, sobald ein Dominionverdächtiger auftauchte.
Die Tür trug ein Schild, darauf stand in Zierschrift:
CHURCH OF THE APOSTLES ETC.
God is Conscience — Have No Other — Love Your Neighbor as Your Brother[96]
»Noble Gesinnung«, sagte ich.
»Will ich meinen. Aber berühmt durch Missachtung. Wir werden sehen.« Julian klopfte an die Tür.
Eine Frau im engen roten Kostüm mit schwerem Schultertuch öffnete. In ihrer äußeren Erscheinung ähnelte sie den weniger tugendhaften Frauen, die man in dieser Gegend sehen konnte, vielleicht schon ein paar Jahre über den Zenit ihrer Begehrtheit hinaus; aber ich will ihr kein Unrecht tun, ich will nur eine Beschreibung anbieten. »Ja?«, sagte sie.
»Wir möchten gerne Pastor Stepney sprechen«, sagte Julian.
»Momentan wird kein Dienst angeboten.«
»Das macht nichts. Wir brauchen keinen.«
»Nun, dann treten Sie ein.« Die Frau führte uns in ein kleines, dürftig möbliertes Zimmer. »Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind. Wer sind Sie, bitte?«
»Pilger auf der Suche nach Erleuchtung«, sagte Julian lächelnd.
»Wir haben davon fünf oder sechs pro Tag«, sagte die Frau. »Hier gibt es mehr Pilger als Flöhe. Nehmen Sie Platz. Ich werde sehen, ob er Zeit für Sie hat.«
Sie verschwand hinter einer Tür. Wir setzten uns auf eine kleine Bank, eine andere Sitzgelegenheit gab es hier nicht. Vor uns stand ein rauer Kiefernholztisch, auf dem ein paar Druckschriften lagen. The Evolving God hieß die eine. »Er interessiert sich für die Evolution«, sagte ich. »Das hat man selten bei Geistlichen.«
»Ob er überhaupt weiß, wovon er redet? Das wissen die wenigsten Hochstapler.«
»Und wenn er nun aufrichtig ist?«
»Das wär ja noch schlimmer«, sagte Julian.
Dann öffnete sich die benachbarte Tür, und Pastor Stepney trat ins Zimmer.
Der Mann sah gut aus. Da musste ich Mrs. Comstock und Calyxa Recht geben. Stepney war groß, schlank und jung — er sah nicht älter aus als Julian —, dunkle, schimmernde Haut und drahtiges Haar. Doch das Fesselndste an ihm waren die Augen, durchdringend, üppig und erdbraun. Er schenkte uns ein wohlwollendes Lächeln und sagte mit sanfter Stimme: »Was kann ich für euch tun, Jungs? Auf der Suche nach spiritueller Einsicht, ja? Ich bin euch zu Diensten, solange ihr die Spendenbüchse nicht vergesst — sie steht am Ausgang.«
Julian war schon auf den Beinen. Er war wie ausgewechselt. Seine Augen wurden größer und größer. »Mein Gott!«, rief er aus. »Bei allen Stepneys in New York City — bist du es, Magnus?«
»Magnus Stepney, ja.« Der Pastor wich argwöhnisch zurück.
»Erkennst du mich nicht, Magnus? Auch wenn wir inzwischen um Jahre älter sind?«
Der junge Pastor runzelte die Stirn; dann weiteten sich seine Augen. »Julian!«, schrie er, und ein Grinsen eroberte sein Gesicht. »Julian Comstock, von Gottes Gnaden! Bist du jetzt nicht Präsident?«
Es brauchte seine Zeit, bis ich mich auf das gänzlich Unerwartete eingestellt hatte, aber ich will den Leser nicht nötigen, meine Verwirrtheit zu teilen. Es lag auf der Hand, dass Julian und Stepney alte Bekannte waren, und in ihrer Unterhaltung gab es ein paar — wie sagt man gleich? — Knackpunkte, die ich mir gemerkt habe.
Stepney lud uns in sein »Gotteshaus« ein, das den größten Teil des Dachbodens einnahm, ausgestattet mit Bänken und einem provisorischen Altar — hier ließ es sich ungleich bequemer reden. Ich hielt mich allerdings zurück, so dass die Unterhaltung eigentlich nur zwischen Julian und dem Pastor stattfand. Die beiden hatten sich bereits auf eine Reihe von Anekdoten eingelassen, als Julian einfiel, mich mit Stepney bekanntzumachen.
»Das ist Magnus Stepney, ein alter Bekannter«, sagte er. »Magnus, das ist Adam Hazzard, auch ein Freund von mir.«
Pastor Stepney schüttelte mir die Hand, er packte kräftig und herzlich zu. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Sind Sie auch ein hoher Funktionär im Tarnanzug?«
»Nein, bloß Schriftsteller«, sagte ich.
Julian erklärte, er sei mit Magnus zur Schule gegangen, bevor man ihn, Julian, nach Williams Ford gebracht habe, um ihn vor Deklan Comstock zu schützen. Die Schule, die sie besucht hatten, war ein eupatridisches Institut, in dem aufgeweckte Aristokratenkinder im Rahmen des Schicklichen in Arithmetik und Literatur unterrichtet wurden. Ich hörte heraus, dass die beiden unzertrennliche Freunde gewesen waren und ein Schrecken ohne Ende für das Aufsichtspersonal. Beide waren ihrem Alter an Intelligenz voraus und gegenüber Autoritäten unverschämt gewesen. Sie waren vorzeitig getrennt worden durch Julians vorsorgliche Verbannung nach Athabaska und hatten sich völlig aus den Augen verloren. »Wie um alles in der Welt bist du auf die Idee gekommen, Pastor einer illegalen Kirche zu werden?«, wollte Julian wissen.
»Es ging um ein Grundstück am Hafen«, sagte Stepney. »Mein Vater wollte keinen Kniefall vor dem Senat machen und hatte das Nachsehen. Er sah sich gezwungen, ins mediterrane Frankreich zu fliehen. Meine Mutter und ich wollten später nachkommen, aber sein Schiff blieb auf See. Ich hatte nur noch meine Mutter, und sie wurde’72 ein Opfer der Pocken. Ich musste jede Arbeit annehmen oder selbst etwas auf die Beine stellen.«
»Und das ist das Resultat?«, fragte Julian. »Die Church of the Apostles etc.?«
»Nach vielen Irrungen und Wirrungen, ja«, sagte Stepney.
Er gab Julian einen knappen Abriss dieser schwierigen Jahre, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Für mich war Pastor Stepney nach alledem ein Schwindler und seine Kirche nichts anderes als ein Magnet, um leichtgläubigen Schäfchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber Stepney redete ganz vernünftig und freimütig über seine religiösen Überzeugungen und wie sie ihn motiviert hätten, diese unabhängige Religionsgemeinschaft zu gründen, der er jetzt vorstand.
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