Lauter grässliche Bilder umschwirrten mich. Monströse Miss- und Fehlgeburten waren an der Tagesordnung gewesen, damals, während der Plage der Kinderlosigkeit, und sie kamen auch heute noch vor, selbst in der zweiten Hälfte des 22. Jahrhunderts. Ich verjagte den Gedanken, Calyxa könne ein Geschöpf zur Welt gebracht haben, das selbst einen abgehärteten Arzt vor Entsetzen aufschreien ließ. Die Treppe war unmöglich steil, und ich rang nach Atem, als ich den Absatz erreichte. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Ich tat einen unsicheren Satz …
Die Ursache der Aufregung sprang sofort ins Auge, obwohl ich erst meinen Augen nicht traute.
Dr. Polk und die Schwester standen mit dem Rücken zur Wand, die Gesichter schreckverzerrt. Sie starrten auf das riesige Doppelfenster des Schlafzimmers. Heute Morgen hatte Dr. Polk die Fensterläden aufgestoßen, was er häufig tat, weil er frische Luft für die beste Medizin hielt. Und in ebendiesem Fenster stand ein gigantischer, übelriechender, tierischer Kopf.
Ich war nicht mehr so berauscht, dass ich nicht kapierte, was passiert war. Der Kopf gehörte Otis. Otis, die verwaiste Giraffe, war durch die nicht alltäglichen Geräusche und Gerüche einer Niederkunft angelockt worden. Ans Haus herangewandert, hatte der Junggeselle den Kopf in das offene Fenster gesteckt, eine natürliche und unbefangene Weise, seine Neugier zu befriedigen. Nur dass weder Dr. Polk noch die Hebamme von einer Giraffe wussten, die hier frei herumstreunen durfte.
Calyxa kannte Otis gut genug, um bei seinem Anblick nicht gleich in Panik zu geraten, aber sein Auftritt fiel unglücklicherweise mit den vorletzten Presswehen zusammen. Ihr Gesicht war puterrot und voller Schweißperlen, und sie schrie wild und verzweifelt: »Virez-moi cette girafe d’ici!«
Ich ging respektvoll zum Angriff über und schrie solange »Otis, weg!« und »Otis, geh!« (oder erst den Imperativ und dann den Namen), wobei ich wild mit den Armen fuchtelte, bis es Otis zu bunt wurde und er den Kopf zurückzog. Im Handumdrehen hatte ich die Läden geschlossen und verriegelt. Otis stieß noch ein-, zweimal mit der Nase gegen die Barriere, dann stellte er seine Nachforschungen angewidert ein.
»Nur eine Giraffe«, sagte ich zu Dr. Polk. »Tut mir wirklich leid.« Dabei konnte ich doch nichts dafür.
»Halten Sie die Tiere bitte zurück«, sagte er und straffte sich.
»Es gibt nur die eine hier. Sie heißt Otis, beziehungsweise ›er‹. Er wird Sie nicht mehr belästigen, Dr. Polk. Halten Sie einfach die Läden geschlossen.«
»Man sollte vielleicht ein Schild aufstellen — Vorsicht, Giraffen!«, brummte er. Dann hatte er sich wieder im Griff und erklärte mir, ich sei Vater eines Mädchens geworden.
4
Jene Leser, die auf eine chronologische Darstellung von Julians präsidialer Politik hoffen, mit allen Details und Mosaiksteinchen seiner Gesetzgebung, werden vom Fortgang meiner Erzählung enttäuscht sein.[97] In den Wochen zwischen Ostern und dem Unabhängigkeitstag von 2174 — so wichtig sie für die weitere Entwicklung der Exekutive auch waren — hatte ich als frischgebackener Vater viel um die Ohren und alle Hände voll zu tun.
Autoren, die sich mit Julians Amtszeit auseinandersetzen, schildern ihn meist als arroganten und unversöhnlichen Feind der Religion oder als toleranten und nachsichtigen Freund der Freiheit, je nachdem, welcher Überzeugung sie sind. Vielleicht haben beide Fraktionen bis zu einem gewissen Grade Recht, denn Julian — insbesondere als Präsident der Vereinigten Staaten — war beides.
Es stimmt, dass in seiner Amtszeit die Feindseligkeiten zwischen ihm und dem Dominion ihren Siedepunkt erreichten, mit Konsequenzen, die Historikern nicht fremd sind. Es stimmt auch, dass seine Beziehungen zu den sogenannten Freikirchen herzlich und großzügig war, untypisch für jemanden, der sich nicht gegen die Bezeichnung Agnostiker oder Atheist wehrte. Das war weniger ein politischer Widerspruch als ein charakterlicher. Julian verabscheute Macht, konnte aber nicht widerstehen, sie zu gebrauchen, wenn es um die — seiner Meinung nach — gute Sache ging. Er hatte das Zepter verachtet, aber nun hielt er es in Händen und gebrauchte es wie ein Werkzeug. Seine Vision dehnte sich aus, sein Blickfeld verengte sich.
Ich sah ihn oft in diesen Monaten, allerdings nicht in seiner Funktion als Präsident. Er schaute oft bei uns herein und war jedes Mal entzückt, wenn er Flaxie halten durfte.[98] Flaxie, ein gutmütiges Baby, mochte seine Zuwendung, und ich freute mich, wenn sie zusammen waren. Er war aufmerksam Calyxa gegenüber und vergewisserte sich, dass sie alles an Komfort und Zuwendung bekam, was sie brauchte, um sich von der Strapaze zu erholen. »Das Einzige, was er mir noch schuldig ist«, meinte Calyxa einmal, »ist meine Bewegungsfreiheit.« — Julian hätte die Verfügung längst aufheben lassen, wenn es in seiner Macht gestanden hätte; und er ließ nicht nach, mit Diakon Hollingshead um diese und andere schwerwiegende Dinge zu fechten.
Sam war seit seiner Hochzeit mit Emily Baines Comstock (jetzt Godwin) gleichermaßen mit häuslichen Pflichten eingedeckt, so dass ich mir schon Sorgen machte, Julian könne ohne unsere greifbare Nähe vereinsamen. Deshalb war ich ganz froh, dass sich seine Freundschaft mit Pastor Magnus Stepney so gut anließ. Die beiden waren inzwischen unzertrennlich geworden, und ihre sportlichen Debatten über Gott und Schicksal und derlei Dinge waren für Julian eine willkommene Abwechslung und auch Ablenkung von der Bürde des Präsidentenamtes.
Im militärischen Bereich erntete Julian Lob, weil er die wenigen Erfolge seines Onkels sichern konnte und weitere Bodenoffensiven zurückstellte, bis die Laurentische Armee das Debakel in Labrador »an Leib und Seele« verkraftet hatte, und weil er den Krieg gegen die Deutschen mehr auf See verlagert hatte. Admiral Fairfield gelangen in dieser Zeit mehrere erfolgreiche Seemanöver, und die strategisch wichtige Bekohlungsstation in Iqualuit wurde so lange unter Beschuss genommen, bis die mitteleuropäische Garnison die weiße Flagge hisste. Wenn das auch nicht »der endgültige Vernichtungsschlag gegen die europäischen Aggressoren« war, den sich so viele von Julian dem Eroberer versprochen hatten, um die patriotischen Gefühle zu befriedigen, reichte es allemal.
Frühling und Sommer verstrichen, ohne dass ich mir viele Gedanken um die Zukunft machte, abgesehen von den Nächten, in denen Flaxie friedlich in ihrem Kinderbettchen schlief und Calyxa und ich zusammen im Bett lagen und redeten.
»Wir müssen hier ausziehen«, sagte Calyxa in einer solchen Nacht im Juni. Ein warmer Windzug kam durchs Schlafzimmerfenster, das wir (der Insekten und Giraffen wegen) mit robusten Fliegendrahtläden versehen hatten. »Wir können hier nicht wohnen bleiben.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber schön hatten wir es hier.« Ich würde den Wildpark vermissen, die Statuary Lawn, diese umfriedete Stille mitten in der lärmenden Stadt; aber wir konnten nicht alle Zeit auf dem Palastgelände bleiben. »Wir suchen eine Wohnung in der Stadt, sobald Julian diese Verfügung aus der Welt geschafft hat.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Dominion wird die Verfügung nicht zurücknehmen. Es wird Zeit, dass wir der Wahrheit ins Auge sehen. Für den Diakon ist diese Verfügung eine Sache des Prinzips. Er wird nicht davon ablassen, bis er im Sarg liegt, und er hat das ganze Ansehen des Dominions hinter sich. Institutionen wie das Dominion of Jesus Christ on Earth weichen keinen Schritt zurück, wenn sie nicht müssen.«
»Du siehst zu schwarz. Solange die Verfügung in Kraft ist, müssen wir noch warten.«
Calyxa blickte nachdenklich beiseite, das Mondlicht setzte winzige Lichter in ihre Augen. »Wie lange, glaubst du, wird Julian im Amt bleiben, wenn er dauernd Streit mit Senatoren und Diakonen sucht?«
97
Es liegen mehrere solche Berichte vor, von verschiedenen Autoren. Manche Texte sind um die Wahrheit bemüht, andere tragen das Prüfsiegel des Dominions.
98
Wir hatten unser Kind Flaxie getauft — zu Ehren meiner verstorbenen Schwester, aber auch wegen des flachsblonden Flaums auf ihrem Köpfchen. Bis zu ihrem ersten Geburtstag hatte sie ihr Babyhaar verloren und bekam den ebenholzschwarzen Wuschelkopf ihrer Mutter. Wir beließen es trotzdem bei dem Namen.