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Meine Mutter sah mich am Grab stehen und kam aus der Hintertür des Cottage. Sie nahm mich wortlos beim Arm. Dann gingen wir nach drinnen, um zusammen zu weinen.

Ich blieb fünf Tage. Meine Mutter wirkte zerbrechlich, aus Gram und wegen ihres Alters. Sie sah nicht mehr gut und konnte nicht mehr für die Aristokraten nähen; aber weil sie zur Pächterklasse gehörte und ihr Leben lang treue Dienste geleistet hatte, erhielt sie weiterhin Belege, für die sie im Pächterladen Lebensmittel bekam, und durfte im Cottage wohnen bleiben.

So gut waren ihre Augen aber noch, dass sie darauf brannte, sich das Exemplar von A Western Boy at Sea anzusehen, das ich ihr selbstredend mitgebracht hatte. Sie behandelte es mit übertriebener Sorgfalt, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln; dann stellte sie es auf ein hohes Bücherbord neben The Adventures of Captain Commongold, das ich ihr geschickt hatte. Sie würde es lesen, sagte sie, Kapitel um Kapitel, nachmittags, wenn das Licht am besten sei, auch das der Augen.

Ich ließ sie noch einmal wissen, dass ich keines der Bücher hätte schreiben können, wenn sie nicht so viel Kraft darin gesetzt hätte, mir das Lesen beizubringen — vor allem die Liebe zum Lesen, also nicht bloß die Technik des Lesens, wie sie die meisten Pächterkinder in der Sonntagsschule lernten.

»Ich habe das Lesen von meiner Mutter gelernt«, sagte sie. »Und sie hat es von ihrer Mutter gelernt und so weiter bis zu den Säkularen Alten. Nach der Familienchronik gab es vor langer Zeit einmal eine Lehrerin in unserer Familie. Vielleicht auch einen Schriftsteller — wer weiß? Dass er nicht lesen und schreiben konnte, empfand dein Vater als große Schande, auch wenn er es nicht zeigte.«

»Du hättest ihm helfen können.«

»Ich hätte es gerne getan. Er wollte nicht. Zu alt und zu festgefahren, sagte er immer. Ich glaube, er hatte Angst, es nicht zu schaffen.«

»Als ich neu in der Armee war, da habe ich einem Kameraden das Lesen beigebracht«, sagte ich und sah wieder dieses Lächeln in ihren Mundwinkeln.

Sie wollte buchstäblich alles über Calyxa und das Baby wissen. Durch einen glücklichen Zufall war es Julian gelungen, kurz vor dem Unabhängigkeitstag ein Foto von uns machen zu lassen, und ich zeigte es ihr. Calyxa saß in einem Sessel, ihre tausend Löckchen glänzten. Auf ihrem Schoß saß Flaxie, ein bisschen schief, die Babysachen etwas verzogen, und stierte in die Kamera. Ich stand hinter dem Sessel und hatte eine Hand auf Calyxas Schulter gelegt.

»Sie sieht energisch aus, deine Calyxa«, bemerkte meine Mutter. »Gute, kräftige Beine. Das Baby ist hübsch. Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren, aber ich sehe ein hübsches Baby, ja, bestimmt.«

»Deine Enkelin«, sagte ich.

»Ja, und wenn sie so weit ist, wird sie auch lesen lernen, nicht wahr?«

»Aber hallo«, sagte ich.

Schließlich redeten wir über Vaters Tod — nicht nur über die Tatsache, sondern auch über die Umstände, die dazu geführt hatten. Ich wollte wissen, ob er bei einem Gottesdienst seiner Church of Signs gebissen worden war.

»Solche Gottesdienste gibt es nicht mehr, Adam. Die Church of Signs hatte nie großen Zulauf außer bei den Abhängigen; und nicht lange, nachdem du fort warst, entschieden die Duncans und Crowleys, es handle sich um einen ›Kult‹ und der gehöre unterdrückt. Ben Kreel fing an, gegen die Sekte zu predigen, und die unbelehrbarsten Mitglieder der Gemeinde wurden zu Schleuderpreisen verkauft oder fortgeschickt. Dein Vater war der einzige Pächter unter ihnen, also blieb er; aber es gab keine Gemeinde mehr, zu der er predigen konnte.«

»Aber die Schlangen behielt er.« Ich hatte das abstoßende Geschlängel draußen in den Käfigen gesehen.

»Für ihn waren sie Haustiere. Er hätte es nicht über sich gebracht, sie verhungern zu lassen oder auf andere Weise zu vernichten; und sie einfach freizulassen war ihm auch zu gefährlich. Ich glaube, töten könnte ich sie auch nicht. Obwohl ich sie abscheulich finde.« Sie sagte das Wort »abscheulich« so heftig, dass ich erschrak. »Ich kann gar nicht sagen, wie abscheulich ich sie finde. Ich fand sie immer abscheulich. Deinen Vater habe ich geliebt, Adam. Aber diese Schlangen nicht. Sie haben nichts mehr zu fressen bekommen, seit er gestorben ist. Was soll aus den Tieren werden?«

Ich ließ die Sache auf sich beruhen. Zum Abendessen gab es einen bescheidenen Eintopf und Klöße. Nachdem meine Mutter zu Bett gegangen war und ich davon ausgehen konnte, dass sie schlief, ging ich leise hinaus zu den Käfigen.

Ein heller Mond hing über den fernen Bergen. Er warf sein unbeteiligtes, bleiches Licht auf Vaters Massassauga-Klapperschlangen. Sie waren hungrig und in gereizter Stimmung, peitschten vor Ungeduld. Sie mussten lange nicht mehr gemolken worden sein. (Das hatte Vater immer heimlich gemacht, vor dem Gottesdienst, besonders wenn es sein konnte, dass Kinder an den Ritualen teilnahmen. Er spannte ein Stück dünnes Leder über die Öffnung eines alten Marmeladenglases und ließ die Schlangen hineinbeißen. Eine Zeit lang waren sie dann giftfrei. Das war seine ureigene kleine Apostasie — eine Art Versicherungspolice gegen kleine Unachtsamkeiten seitens höherer Mächte.) Die Schlangen nahmen mich wahr. Unentwegt wanden und ringelten sie sich, und ich bildete mir ein, in ihren toten, blutleeren Augen eine kalte Wut zu spüren.

Ein Mensch, der sich rückhaltlos Gott unterwirft, kann sie anfassen, ohne dass ihm etwas passiert: Das war der Glaube, zu dem mein Vater sich bekannt hatte. Er hatte Gott vertraut, ganz bestimmt hatte er das, und hatte geglaubt, Gott trete in den verdrehten Augen und dem unverständlichen Lallen (dem sogenannten Zungenreden) der übrigen Gemeinde in Erscheinung. Vertraue, und du wirst erlöst, war seine Philosophie. Und nun hatten sie ihn getötet, seine Schlangen. Ich fragte mich, was in seinem Fall versagt hatte — der menschliche Glaube oder die göttliche Langmut.

Ich war kein frommer Mensch. Ich war kein Anhänger der Church of Signs und hatte zu keiner Zeit mit ihren Glaubenssätzen geliebäugelt. Trotzdem hob ich den Riegel und öffnete die Tür des Käfigs, der mir am nächsten stand. Ich trug keine Handschuhe oder sonst einen Schutz. Mit bloßen Händen und Armen langte ich in den Käfig.

Ich hatte ein stummes Reich von Kummer und Zorn betreten. Was ich tat, entbehrte jeder Logik. Ich erinnerte mich nur an den Rat meines Vaters, vor Jahren, als ich ihm zugesehen hatte, wie er lebende Mäuse an die Schlangen verfütterte und dabei ihren Schlägen und Angriffen auswich. Wenn man wisse, was man tue, hatte er gesagt, sei es normalerweise nicht nötig, eine Schlange zu töten. Aber es gebe unvorhergesehene Zwischenfälle: Vielleicht wird ein unschuldiger Mensch oder ein Tier von einer streunenden Viper bedroht. Dann musst du dich entscheiden, und zwar schnell. Hab keine Angst vor der Schlange, Adam. Packe sie da, wo bei anderen Tieren der Hals ist, nämlich hinter dem Kopf; kümmere dich nicht um den Rest der Schlange, egal wie sehr er um sich schlägt; und schlage auf ihren Schädel ein, so oft und so lange wie nötig, um sie zu bezwingen.

Und genau das tat ich — immer wieder, mechanisch —, bis ein Dutzend erstarrende Schlangenleichen vor meinen Füßen lagen.

Dann kehrte ich ins Haus zurück und legte mich auf das Bett, das mich ein gut Teil meines Lebens begleitet hatte, und schlief stundenlang, ohne zu träumen.

In der Früh glitzerten die Drahtkäfige vor lauter Tautropfen, und die Kadaver waren verschwunden — vermutlich von hungrigen Tieren davongeschleppt.

An meinem vorletzten Tag in Williams Ford fragte ich meine Mutter, ob sie an Gott glaube, und das Himmelreich und die Engel und dergleichen.

Das war eine gewagte Frage, mit der ich Mutter sichtlich überrumpelte. »Es gehört sich nicht, solche Fragen zu stellen«, meinte sie, »jedenfalls nicht außerhalb der Kirche.«