Ich hatte viel zu leiden gehabt unter den Bemerkungen der anderen (»Was dem einen sein Huhn, ist dem anderen seine Viper«, um nur ein Beispiel zu nennen), so dass mich Ben Kreels Behauptung nicht überzeugen konnte. Doch was wusste ich schon über moderne Kriegsführung? So gut wie nichts, und das meiste davon stammte aus den Romanen von Charles Curtis Easton. Und die Aussicht, Ben Kreel könnte vielleicht doch Recht haben, ließ mich (wie beabsichtigt) nur noch kleinlauter werden.
»Da!«, sagte Ben Kreel. »Hörst du das, Adam?«
Es war nicht zu überhören. Im Kirchturm der Dominion-Halle läutete die Glocke und verkündete den ökumenischen Frühgottesdienst. Ein silberheller Klang in der Winterluft, einsam und tröstend, und ich verspürte die Regung hinzulaufen — Schutz zu suchen, als sei ich wieder ein Kind.
»Ich werde gebraucht«, sagte Ben Kreel. »Es macht dir doch nichts, wenn ich vorausreite?«
»Nein, Sir. Seien Sie unbesorgt.«
»Solange wir uns verstehen. Kopf hoch, Adam! Die Zukunft könnte heller sein, als du denkst.«
»Danke, Sir.«
Ich blieb noch eine Weile auf der Klippe und sah Ben Kreel hinterher. Selbst in der Sonne spürte ich die Kälte; aber dass ich am ganzen Körper zitterte, lag vielleicht weniger am Wetter als an meinem inneren Konflikt. Der Kirchenmann hatte mich beschämt; er hatte meinen lockeren Lebenswandel der letzten Jahre ins rechte Licht gerückt und mir gezeigt, wie viele meiner überkommenen Werte ich der verführerischen Philosophie eines agnostischen Aristokraten und eines alternden Juden geopfert hatte.
Schweren Herzens lenkte ich Rapture zurück auf den Pfad nach Williams Ford und nahm mir vor, meinen Eltern zu erklären, wo ich gewesen war, und ihnen nochmals zu versichern, dass ich die Einberufung gern über mich ergehen lassen würde.
Ich war so niedergeschlagen durch die Ereignisse des Morgens, dass ich den Blick selbst dann noch gesenkt hielt, als Rapture nur mehr seine eigene Spur zurückverfolgte. Der Schnee von heute Nacht lag wie gesagt noch weitgehend unberührt auf diesem Pfad, so dass ich genau sah, wo ich heute früh geritten war … Dann kam die Stelle, wo Julian und ich uns in der Nacht getrennt hatten. Hier gab es deutlich mehr Hufspuren, überraschend viele …
Und sie verrieten Alarmierendes.
Augenblicklich hielt ich an.
Ich blickte nach Süden in Richtung Williams Ford. Dann sah ich nach Osten, wohin Julian letzte Nacht geritten war.
Ich inhalierte eine erfrischende Prise eiskalter Luft, dann folgte ich der Spur, die mir am dringlichsten schien.
5
Auf der Ost-West-Strasse durch Williams Ford war nie viel los, erst recht nicht im Winter.
Die Wire Road, wie man die Südstraße wegen der Telegrafenleitung nannte, verband dagegen Williams Ford mit dem Kopfbahnhof in Connaught, und dort herrschte eine ganze Menge Verkehr. Doch die Ost-West-Straße führte praktisch nirgends hin: Sie war ein Vermächtnis der Säkularen Ära und wurde hauptsächlich von selbstständigen Antiquaren und Kippern benutzt, und das auch nur in den wärmeren Monaten. Ich vermute, wenn man der alten Straße immerzu folgt, gelangt man zu den Großen Seen oder irgendwo weiter östlich; oder man reitet in die andere Richtung und verliert sich zwischen Unterspülungen und Erdrutschen in den Rocky Mountains. Aber die Eisenbahnlinie — und eine parallele Mautstraße weiter südlich — hatten solchen Dingen einen Riegel vorgeschoben.
Dessen ungeachtet wurde die Ost-West-Straße da, wo sie Williams Ford verließ, streng überwacht. Auf einer Anhöhe hatte die Reserve einen Mann postiert, der alles im Blick hatte; es war dieselbe Anhöhe, auf der Julian, Sam und ich letzten Oktober auf dem Rückweg von der Halde Rast gemacht und Brombeeren gepflückt hatten. Tatsache war aber, dass Reservisten in Reserve gehalten und nicht an die Front geschickt wurden, meist wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen — manche waren Veteranen, die eine Hand oder einen Arm verloren hatten; andere waren schon älter; wieder andere waren zu einfältig oder träge, um in einer disziplinierten Truppe zu bestehen. Ich kann nichts Bestimmtes über den Mann sagen, den man dort als Wache postiert hatte, aber wenn er kein Dummkopf war, so war er zumindest völlig unbekümmert, was seine Tarnung anging, denn seine Silhouette (und die seines Gewehrs) hob sich klar und deutlich und für jedermann sichtbar vom hellen östlichen Himmel ab. Aber vielleicht war das ja Absicht, um potenzielle Flüchtlinge von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Allerdings war nicht jeder Weg versperrt, nicht für jemanden, der in Williams Ford aufgewachsen war und überall im Umkreis gejagt hatte. Anstatt Julian direkt zu folgen, ritt ich ein Stück weit nach Norden und dann durch ein Lager von abhängigen Arbeitern. Zerlumpte Kinder gafften aus leeren Hüttenfenstern, und der Rauch der Bitumenkohleherde verwandelte die regungslose Luft in ölig grauen Dunst. Diese Route traf auf Wege, die durch die Weizenfelder liefen und zum Transport von Ernte und Feldarbeitern dienten — Feldwege, die sich mit den Jahren immer tiefer ins Erdreich geschnitten hatten, so dass ich ständig hinter einem Sichtschutz aus Erde und Scherengittern ritt: Der ferne Wachposten hatte keine Chance. Als ich weit genug östlich war, ritt ich einen Viehtrieb hinunter, der mich wieder zur Ost-West-Straße brachte — wo ich die gleichen Spuren fand, die mich vorhin in Williams Ford alarmiert hatten — dank einer dünnen Schneedecke, die noch kein Wind verweht hatte. Sie wiesen nach Osten in Richtung Lundsford.
Hier musste Julian noch vor Mitternacht vorbeigekommen sein. Kurz darauf hatte es wohl aufgehört zu schneien, denn die Hufabdrücke waren nur leicht verwischt.
Aber da war nicht bloß Julians Spur. Da war noch eine zweite, bröckeliger und folglich jünger, wahrscheinlich im Laufe der Nacht entstanden. Das war es, was mir an der Stelle aufgefallen war, wo Julian und ich uns getrennt hatten: Julian wurde verfolgt. Jemand war ihm ohne sein Wissen gefolgt. Das bedeutete nichts Gutes. Aber wenigstens war ihm nur einer gefolgt und nicht ein ganzer Trupp. Hätten die mächtigen Leute vom Landsitz gewusst, dass Julian Comstock Reißaus genommen hatte, hätten sie ein ganzes Bataillon geschickt, um ihn wieder einzufangen. Vermutlich hatte man Julian für einen flüchtigen Abhängigen oder einen Pächterjungen gehalten, der vor der Einberufung floh, und irgendein übereifriger Reservist hatte sich aus eigener Initiative auf die Spur gesetzt. Oder aber das besagte Bataillon kam gleich angeprescht — oder würde es bald tun, denn Julians Abwesenheit musste inzwischen aufgefallen sein.
Ich ritt also gen Osten und fügte beiden Spuren eine dritte hinzu.
Es wurde ein langer Ritt. Der Mittag kam, der Mittag ging, und weitere Stunden vergingen; erst als die Sonne sich an ihr Rendezvous mit dem südwestlichen Horizont erinnerte, fing ich an, gründlicher nachzudenken. Was bezweckte ich eigentlich mit meinem Ritt? Wollte ich Julian warnen? Wenn ja, kam ich reichlich spät … obwohl ich hoffte, dass er irgendwann von selbst auf die Idee gekommen war, seine Spuren zu verwischen oder etwaige Verfolger in die Irre zu führen. Letztere hatten nicht den Vorteil zu wissen, wo er sein Zelt aufschlagen wollte, um auf Sam Godwin zu warten. Schlimmstenfalls wollte ich Julian aus seiner Gefangenschaft befreien, auch wenn ich bloß einen Vorderlader und ein paar Schuss Munition (dazu ein Messer und meinen Verstand, beides ziemlich schwache Waffen) aufzubieten hatte gegen was immer ein Reservist so bei sich trug. Jedenfalls waren das eher Wünsche und Ängste als reifliche Überlegungen. Ich hatte keinen Plan. Ich wollte Julian einfach nur zu Hilfe eilen und ihm sagen, dass ich Sam die Botschaft überbracht hatte und dieser auf eine passende Gelegenheit wartete, um nachzukommen. Fertig.