»Ich gebe mir Mühe.«
»Aber man sollte auch seinem besten Freund nicht folgen, wenn er auf dem Weg in die Hölle ist, Adam Hazzard.«
Ich hätte ihm am liebsten erklärt, dass mein Glaube an die Hölle inzwischen noch angeschlagener war als mein Vertrauen ins Paradies. Vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass ich in New York einem Mann begegnet war, der behauptete, Gott sei das Gewissen (- Höre nur auf dein Gewissen! -); wenn das stimmte, war das gesamte Dominion eine einzige Ketzerei, wenn nicht Schlimmeres; aber ich wollte keine neue Diskussion vom Zaun brechen und saß für den Rest des Weges still und verdrossen da.
Der Zug nach Manhattan war ungleich komfortabler als der mit dem Karibugeweih, in dem ich Williams Ford zum ersten Mal verlassen hatte. Aber ich hatte genauso viel Angst wie damals.
6
Nachdem ich das Wiedersehen mit Calyxa und Flaxie gefeiert, mir den Schmutz der Reise vom Leib gebadet und eine Nacht geschlafen hatte, suchte ich den Palast auf, um mit Julian zu reden.
Im Regierungspalast herrschte eine mysteriöse Stille. Das gewaltige Bauwerk war ein fein ausgetüfteltes Labyrinth aus Büros, Wohnräumen, Wirtschaftsräumen, Salons und Sälen. Es beherbergte Dienstpersonal, Beamte und die Republikanische Garde und den Präsidenten natürlich. Es hatte zwei Geschosse über dem Parterre und darunter ein ausgedehntes Tiefgeschoss und Kellerräume. Ich kannte kein Gebäude mit so viel Vertäfelungen, Vorhängen, Schärpen, Teppichen und Rüschen; und ich habe mich nie darin wohlgefühlt. Die kleineren Beamten, an denen ich vorbeikam, betrachteten mich mit einem Hochmut, der an Verachtung grenzte, und die Republikanischen Gardisten runzelten bei meinem Anblick die Stirn und tasteten nach ihren Pistolen.
Julian »bewohnte« natürlich nicht den ganzen Palast — das hätte ein Einzelner gar nicht geschafft —, sondern verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek. Dieser Trakt enthielt nicht bloß die umfangreiche Präsidentenbibliothek (die zum größten Teil dominiongeprüft war, obgleich Julian inzwischen viele Schriften aus dem befreiten Archiv hinzugefügt hatte), sondern auch einen Lesesaal mit hohen, sonnigen Fenstern und einem mächtigen Eichenschreibtisch. Diesen Saal hatte Julian zu seinem Aufenthaltsraum erkoren, und hier fand ich ihn auch.
Magnus Stepney, der schlitzohrige Pastor der Church of the Apostles etc., hatte es sich in einem Plüschsessel bequem gemacht und las in einem Buch, während Julian am Schreibtisch saß und schrieb (zumindest hatte er den Federhalter in der Hand und vor ihm lag Papier). Pastor Stepney war jetzt schon seit vielen Wochen Julians ständiger Begleiter, und beide lächelten, als ich eintrat. Sie stellten mir Fragen über Williams Ford, über meinen Vater und meine Mutter, und ich ließ sie ein wenig an dieser traurigen Angelegenheit teilhaben; es dauerte aber nicht lange, und Julian kam wieder auf sein Drehbuch zu sprechen.
Ich ließ ihn wissen, ich hätte das Manuskript mit Charles Curtis Easton besprochen. Ich hatte Angst, er könne sich ärgern, weil ich diese »Familienangelegenheit« einem Fremden angetragen hatte, und er schien tatsächlich ein wenig verstört; aber Magnus Stepney — der genauso ein Ästhet und Anhänger der Schauspielkunst war wie Julian[100] — klatschte und meinte, ich hätte genau das Richtige getan: »Das ist es, was wir brauchen, Julian, eine professionelle Meinung.«
»Kann schon sein. Hat sich Mr. Easton denn schon geäußert?«, fragte Julian.
»Ja, in der Tat.«
»Wärst du auch so freundlich, mir zu sagen, was er gesagt hat?«
»Er meinte auch, dass der Geschichte ein paar unentbehrliche Zutaten fehlten.«
»Als da wären?«
Ich räusperte mich. »Drei Akte — einprägsame Lieder — schöne Frauen — Piraten — ein Kampf auf offener See — ein mieser Schurke — ein Duell …«
»Aber nichts von alledem hat mit Mr. Darwin zu tun.«
»Siehst du, und das ist der springende Punkt. Willst du die Wahrheit erzählen oder eine Geschichte? Der Trick ist«, sagte ich in Erinnerung an Theodore Dornwoods Kommentar zu meinen Texten, »einen Kurs zwischen Skylla und Charybdis zu steuern …«
»Hübsch gesagt für einen Pächterjungen«, meinte Magnus Stepney lachend.
»… wobei Skylla die Wahrheit ist und Charybdis das Drama. Oder war es umgekehrt?«
Julian seufzte und verdrehte die Augen; doch Stepney tat einen kleinen Jauchzer und schrie: »Was hab ich dir gesagt, Julian! Ich, Adam Hazzard und Mr. Charles Curtis Easton sind einhellig derselben Meinung!«
Julian schwieg sich an diesem Tag aus. Natürlich war er zuerst mal skeptisch. Doch lange konnte er nicht widerstehen, zumal die Idee an seinen Sinn fürs Theatralische appellierte; und noch ehe die Woche zu Ende war, hatte er sie als seine eigene adoptiert.
Der restliche Juli war der Arbeit an einem endgültigen Drehbuch gewidmet. Manche Gelehrte unterstellen Julian, an seinem Film »herumgebastelt« zu haben, während seine Präsidentschaft zerbröckelt sei. Doch im Sommer 2175 schien die Welt noch in Ordnung. Ich denke, Julian suchte in der Kunst eine Art Erlösung von den Schrecken des Krieges, obschon er als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte von Amts wegen mit Krieg befasst war. Und ich denke, es gab noch einen tieferen Grund, warum Julian Protokoll und Verflechtungen seines politischen Amtes in den Wind schlug. Ich glaube, er hatte fest damit gerechnet, in Labrador zu sterben, hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden, nachdem das Manöver mit den schwarzen Drachen nicht den gewünschten Erfolg gehabt hatte — und war schockiert, überlebt zu haben, nachdem er so viele Menschen in den Tod geführt hatte.
Seine Anweisung, alle formellen Verbindungen zwischen Dominion und Militär aufzulösen, hatte Schockwellen durch beide Armeen geschickt. Colorado Springs war praktisch im Zustand der Rebellion, und Diakon Hollingshead hatte seine Besuche im Regierungspalast eingestellt und versagte Julian jedweden Respekt. Das Dominion hatte seine anerkannten Kirchen fest im Griff, und alle Kanzeln des Landes stellten »Julian den Atheisten« an den Pranger und machten es den Eupatriden und Senatoren immer schwerer, ihn zu unterstützen.
Dass uns Diakon Hollingshead keine unliebsamen Besuche mehr abstattete, schaffte Platz für die willkommenen Besuche von Mr. Charles Curtis Easton, den Julian in den Palast einlud, um die Änderungen am Darwin-Manuskript zu besprechen. Julian war angetan von Mr. Easton (»So könntest du einmal aussehen, Adam, wenn du ins hohe Alter kommst und dir einen Bart stehen lässt.«) und beauftragte ihn, mit mir ein Drehbuch-Komitee zu bilden. Das Komitee traf sich nach einem festen Terminplan, und Julian oder Magnus Stepney gesellten sich nicht selten dazu; binnen Wochen hatten wir ein völlig neues Konzept von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin entworfen, das ich hier kurz schildern möchte.
Der erste Akt hieß Homology und handelte von Darwins Jugend. In diesem Akt begegnet der junge Darwin dem Mädchen, in das er sich unsterblich verliebt — seine wunderschöne Kusine Emma Wedgwood — und muss entdecken, dass er in dem jungen Theologiestudenten Samuel Wilberforce einen Rivalen um ihre Gunst hat. Die beiden Jünglinge nehmen an einem Wettbewerb teil, der von der örtlichen Universität (Oxford) gesponsert wird und bei dem es um das Sammeln und Beschreiben von Käfern geht; und Miss Wedgwood sagt in einer neckischen Anwandlung, sie hebe sich einen Kuss für den Gewinner auf. Daraufhin singt Wilberforce ein Lied über Insekten als Beispiele der gottgewollten Artenvielfalt, was Darwin mit musikalischen Anmerkungen zur Homologie konterkariert (was die körperlichen Ähnlichkeiten zwischen Insekten der verschiedenen Arten meint). Wilberforce, der gnadenlos geschickte Intrigant, versucht, Darwin wegen Gotteslästerung disqualifizieren zu lassen. Oxford weist seine Beschwerde zurück. Darwin gewinnt den Wettbewerb; und Wilberforce kommt dazu, als Emma Darwin züchtig auf die Wange küsst; Darwin errötet; und ein wütender Wilberforce schwört ewige Rache.
100
Stepney nahm zwar seine pastoralen Pflichten ernst, machte aber keinen Hehl daraus, dass er, wenn es denn jemals zur Produktion kam, liebend gerne die Rolle des Charles Darwin spielen würde. Das klingt eitler, als es ist, denn er verstand sich wirklich auf eindrucksvolle Posen und amüsante Stimmlagen.