Es war alles in allem die schönste Zeit, die wir seit langem miteinander verbracht hatten, und wir hätten eine große Familie sein können, die nach langer Trennung wieder glücklich vereint war und sich nicht um Gram und Gefahr scherte, die über unseren Köpfen kreisten wie Aasvögel über einem schwindsüchtigen Maultier.
7
Im Spätsommer schlich sich ein Attentäter in den Regierungspalast und versteckte sich im Bibliothekstrakt, um Julian dem Eroberer mit aufgesetzter Pistole in den Kopf zu schießen.
Aus August wurde September und die Produktion von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin kam gut voran. Julian war nicht müßig gewesen, während wir an Buch und Musik gearbeitet hatten. Er hatte das Projekt mit der ganzen Macht seiner Präsidentschaft vorangetrieben und mit einem guten Teil des Vermögens, das er als Comstock verwaltete. Dort, wo das Palastgelände an die 110te Straße West grenzt, hatte er eine Reihe von unbenutzten Stallungen renovieren und in ein »Filmstudio« verwandeln lassen, das in Manhattan seinesgleichen suchte. Und er hatte die Talente der New York Stage and Screen Alliance angeworben, der besten Produktionsgesellschaft der Stadt. Dieses Team aus Schauspielern, Sängern, Geräuschemachern, Kameraleuten, Filmkopierern und anderen war bereits für viele beachtliche Filme verantwortlich, darunter der früher schon beschriebene Film Eula’s Choice. In der Vergangenheit war man allerdings ausnahmslos durch Restriktionen, nicht zuletzt des Dominions, in seinen Möglichkeiten beschnitten gewesen. In diesem speziellen Fall war man direkt Julian unterstellt, er hatte das Sagen und sonst niemand.
An dem besagten Tag hielt ich mich im »Studio« auf und verfolgte Aufnahmen, an denen keine Hauptdarsteller beteiligt waren. Magnus Stepney alias Darwin hatte heute seinen drehfreien Tag; und die Schauspielerin Julinda Pique alias Emma Wedgwood war zu Besuch bei Verwandten in New Jersey. Mich interessierte aber gerade die mehr technische Seite der Dreharbeiten. Ich hatte mich mit dem Kameramann angefreundet, der für die Illusionen verantwortlich war, dem sogenannten Effects Shooter. Ich half ihm bei den Aufnahmen für die Südamerika-Montage im zweiten Akt. Er hatte ein wandgroßes Gemälde aufgestellt, auf dem ein beängstigend realistischer Dschungel samt Gebirge zu sehen war; davor hatte er einige sehr überzeugende Papierimitationen von tropischen Pflanzen und Büschen arrangiert sowie als Tiger verkleidete zahme Hunde und etliche Gürteltiere, die Julian aus Texas geordert hatte, die meisten waren noch am Leben. Julian hatte ihn angewiesen, die Kamera immer in Bewegung zu halten, um noch mehr Leben in die Sequenz zu bringen. Was der Effect Shooter auch beherzigte, wobei er die unruhigen Tiere nicht aus dem Bild verlieren und ebenso wenig den Hintergrund versehentlich als gemalte Kulisse entlarven durfte. Das war eine schweißtreibende Arbeit an diesem schwülen Septembertag, und der Mann stieß ein paar ungewöhnliche Verwünschungen aus, ehe das Ergebnis seinen Vorstellungen entsprach.
Er war dabei, den Set abzubauen, als ein Regierungspage in grüner Livree angelaufen kam. Der junge Mann war offensichtlich erregt und musste erst wieder zu Atem kommen. »Es sind Schüsse gefallen, Major Hazzard!«, keuchte er. »Schüsse im Palast, Sir!«
Ich rannte, ohne nachzufragen, los. Die Republikanische Garde hatte den Bibliothekstrakt abgeriegelt, und mir wurde angst und bange, als ich Julians Leibarzt vor mir durch den Kordon eilen sah. Die Gardisten ließen mich nicht durch, wie sehr ich auch protestierte. Dann tauchte Sam Godwin auf und schob mich vor sich her in den Trakt.
Ich fürchtete das Schlimmste. In dem Maße, wie Julians »Krieg« mit dem Dominion eskaliert war, hatte der Sockel, auf dem er stand, Risse bekommen. Letzte Woche erst hatte er bis auf Weiteres alle einstweiligen Verfügungen des Dominions für null und nichtig erklärt. Was bedeutete, dass die Behörden vorerst alle finanziellen Forderungen, Beschlagnahmungen oder Inhaftierungen als gegenstandslos zu betrachten hatten, wenn sie ausschließlich von der Kirche veranlasst waren. Mit dem Resultat, dass Calyxa nicht länger unter Hausarrest stand und zahllose eingesperrte Ketzer freikamen sowie Anhänger sogenannter Freikirchen und radikale Parmentieristen, die nur auf ekklesiastische Veranlassung inhaftiert waren, nicht zu vergessen die bedauernswerten Spinner, die hartnäckig ihre eigene Göttlichkeit verkündeten.
Dass Julian diese Verfügungsgewalt gekippt hatte und nach wie vor die Trennung zwischen Kirche und Militär betrieb, lief auf eine Kastration des Dominions hinaus. Das Dominion durfte nach wie vor den Zehnten seiner Mitgliedskirchen erheben und den Bann über Dissidenten aussprechen; doch ohne legislativen Rückhalt würde es zunehmend an Boden verlieren — hoffte Julian.
Als Quittung hatten sie einen Killer in die »Höhle des Löwen« geschickt: Denn für mich stand fest, wer die Drahtzieher waren. »Ist Julian tot?«, fragte ich Sam, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.
»Weiß ich nicht«, sagte Sam. »Wurde ein Arzt gerufen?«
»Ja, er ist hier reingegangen …«
Aber Julian war nicht tot. Er befand sich im Lesesaal, saß in einem Lehnstuhl, aufrecht und hellwach, einen Verband um den Kopf gewickelt. Als er uns sah, rief er uns beim Namen.
»Bist du schlimm verletzt?«, wollte Sam wissen.
»Nicht sehr«, meinte Julian grimmig. »Sagt jedenfalls der Doktor — die Kugel hat das Ohr erwischt.«
»Wie ist es passiert?«
»Der Mann hatte sich hinter einem Sessel versteckt und sprang plötzlich auf mich zu. Er hätte mich todsicher umgebracht, wenn Magnus ihn nicht gesehen und laut aufgeschrien hätte.«
»Verstehe«, sagte Sam. »Wo ist Magnus jetzt?«
»Magnus hat sich hingelegt. Die Sache hat ihn schwer mitgenommen — er ist zartbesaitet.«
»So was steckt man nicht so leicht weg. Was ist mit dem Attentäter?«
»Die Garde war nicht zimperlich«, sagte Julian. »Er liegt in einer Zelle im Tiefgeschoss.«
Im Tiefgeschoss des Regierungspalasts gab es einen Komplex mit Zellen.[105] »Hat er was gesagt?«, fragte Sam.
»Man hat ihm die Zunge rausgeschnitten, vermutlich schon vor Jahren; und schreiben kann oder will er nicht. Das Dominion wählt seine Leute sorgfältig aus — es weiß, wie man Menschen zum Sprechen bringt — aber auch zum Schweigen.«
»Weißt du genau, dass er vom Dominion geschickt wurde?«
»Beweise mir das Gegenteil. Ich brauche keine Gewissheit, um einem wohlbegründeten Verdacht zu folgen.«
Sam schüttelte nur den Kopf; nach ihm — und daraus machte er keinen Hehl — hatte Julian sich bei seiner Auseinandersetzung mit dem Dominion auf einen Kurs begeben, der einem Sprung ins tosende Wildwasser des oberen Niagara gleichkam.
»Das Motiv des Mannes liegt jedenfalls auf der Hand«, sagte Julian. »Er hatte einen primitiv gedruckten Handzettel dabei, der die Wiedereinsetzung von Deklan dem Eroberer fordert.«
»Aber wenn er doch nicht lesen oder schreiben kann …«
»Ich glaube, der Handzettel war ein Requisit, das den Verdacht vom Klerus ablenken sollte, obwohl — wer sonst als der Klerus hat ein Interesse, dass Deklan wieder an die Spitze der Regierung kommt? Trotzdem, ich will nicht, dass Deklan als Nagel benutzt wird, an den Meuchelmörder ihre Hoffnungen hängen. Ich muss mich dringend um ihn kümmern.«
Bei diesen Worten stand ein kalter Glanz in seinen Augen. Weder Sam noch ich trauten uns nachzufragen, obwohl uns Böses schwante.
»Und dann die Republikanische Garde …«, fuhr Julian fort.
»Was ist mit den Männern? Haben sie nicht sofort reagiert, als sich der Attentäter zeigte?«
105
Die Zellen waren in der Amtszeit des ersten Comstock entstanden und seitdem von jedem Comstock benutzt worden, auch von Julian: Julians Onkel Deklan schmachtete schon seit seiner Amtsenthebung in diesem internen Gefängnis.