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»Aber sie hätten vorher reagieren sollen; wozu brauche ich sie sonst? Eine Prise Glück und Magnus Stepney haben mir das Leben gerettet, nicht die Gardisten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Mann so weit kommen konnte, ohne einen Kollaborateur in den Reihen der Garde zu haben. Ich habe diese Leute vom letzten Regime geerbt und traue ihnen nicht.«

»Noch einmal«, sagte Sam in einem versöhnlichen Ton, »du weißt nicht …«

»Ich bin der Präsident, Sam, geht das nicht in deinen Kopf? Ich muss nicht wissen; ich muss handeln.«

»Was gedenkst du zu tun?«

Julian zuckte die Schultern; falls er Rat suchte, suchte er ihn offenbar nicht bei uns.

Sam verabschiedete sich, als die Krisenstimmung abklang — er hatte anderweitig zu tun. Ich wollte Julian noch nicht allein lassen und sah zu, wie der Doktor den provisorischen Verband entfernte, um das verletzte Ohr mit Jod zu betupfen und die aufgerissenen Ränder zu nähen. Julians Leibarzt ging so ruhig und professionell zu Werke, wie es Dr. Linch in Striver getan hatte; trotzdem würde eine Narbe zurückbleiben. »An meinem Kopf ist rumgeschnippelt worden wie an einem Kuchenapfel«, beschwerte sich Julian. »Es wird allmählich langweilig, Adam.«

»Bestimmt, Julian. Du solltest dich jetzt ausruhen.«

»Noch nicht. Es gibt Angelegenheiten, die vertragen keinen Aufschub.«

»Was für Angelegenheiten?«

Sein Blick war vollkommen ausdruckslos.

»Präsidentensache«, sagte er.

Die Presse brachte nichts über das Attentat auf den Präsidenten — die Sache war ihr zu heiß; Julian dagegen machte seine Reaktion auf den Mordversuch auf seine Art publik. Ich wurde Zeuge, als ich am nächsten Morgen das Palastgelände verließ, um einen Spaziergang auf dem Broadway zu machen.

Auf der 59sten hinter dem Gate gab es einen Menschenauflauf. Die Leute starrten mit aufgerissenen Augen nach oben. Erst als ich draußen auf dem Bürgersteig vor der hohen Umfassungsmauer stand, konnte ich sehen, was die Leute derart in den Bann schlug.

Hoch oben auf den Eisenspitzen, die die Mauer überragten, steckten zwei Köpfe, einer links und einer rechts vom Tor.

Das war grausiger als alles, was ich in Labrador erlebt hatte, vor allem, weil die Stadt ansonsten so friedlich war. Beispiellos war der Anblick allerdings nicht. In früheren Zeiten hatte man hier die Köpfe von Verrätern zur Schau gestellt, aber nur noch selten seit den turbulenten 2130ern. Die Identität der Opfer war von hier unten schwer auszumachen, zumal die Gesichter verzerrt und von Tauben angepickt waren. Doch ein paar Schaulustige hatten sich Operngläser geholt, und in der Menge wuchs die Übereinstimmung. Keiner der Anwesenden kannte den Kopf auf der linken Seite (konnte ihn auch nicht kennen, denn er gehörte dem Attentäter, den man im Bibliothekstrakt überwältigt hatte). Anders der Kopf auf der rechten Seite — er hatte unlängst noch auf den Schultern von Deklan dem Eroberer gesessen; der frühere Präsident, der in seinem Neffen den Thronräuber gefürchtet hatte, hatte jetzt nur noch das Urteil des gerechten Gottes zu fürchten.

Die unerfreulichen Trophäen faulten dort eine Woche lang vor sich hin. Jeden Tag aufs Neue sammelten sich kleine Jungs am Gate und warfen mit Steinen nach den Köpfen, bis sich die scheußlichen Verunzierungen von den Eisenspitzen lösten und hintenüber aufs Palastgelände fielen.

Julian wollte nicht über die Exekutionen sprechen und sagte nur, dass jetzt der Gerechtigkeit Genüge getan und die Sache erledigt sei. Ich konnte nur hoffen, dass er die Hinrichtungen nicht befohlen, sondern lediglich gutgeheißen hatte, obwohl der Unterschied zwischen befehlen und gutheißen so groß nicht war. Nicht dass ich Mitgefühl für Julians Onkel oder den anonymen Attentäter empfunden hätte, denn jener hatte viele Morde und dieser zumindest einen Mordversuch auf dem Gewissen. Doch sie ohne ordentlichen Prozess hinzurichten war mir einfach zu unzivilisiert; und die Zurschaustellung der Häupter konnte auch nur bewirken, dass man Julian für brutal und herrisch hielt.

In derselben Woche entließ Julian in einem weiteren Handstreich alle aktiven Mitglieder der Republikanischen Garde — gut fünfhundert Männer — und ersetzte sie durch Soldaten der Laurentischen Armee, handverlesen aus einer Liste jener, die an Julians Seite bei Mascouche, Chicoutimi und Goose Bay gekämpft hatten. Darunter viele, die auch meine Kameraden waren; es war schon verblüffend, durch die Palastkorridore zu gehen und nicht die gewohnten feindseligen und misstrauischen Blicke zu ernten, sondern herzliche Zurufe alter Freunde und Gefährten.

Am Freitagabend erfuhr dieses Gefühl noch eine Steigerung, als ich zu Julian und Stepney unterwegs war, um den Wochenplan für die Arbeit an Charles Darwin zu besprechen. Der neue Captain der Republikanischen Garde, dem ich bislang noch nicht begegnet war, bewachte höchstpersönlich den Zugang zum Bibliothekstrakt, als ich um eine Ecke der langen Korridore bog und fast mit ihm zusammengestoßen wäre.

»Passen Sie gefälligst auf«, schrie der neue Mann. »Ich bin keine Tür, die man aufstoßen muss, um hier durchzukommen — erklären Sie Ihre Absichten, Mister — aber — hol mich der Teufel, wenn das nicht Adam Hazzard ist! Adam, du Bücherwurm! Da müsste ich einen verdammt guten Grund haben, wenn ich dir nicht die Hand schüttle!«

Er schüttelte sie mir tatsächlich, und es tat verdammt weh, denn der neue Captain der Republikanischen Garde war niemand anderes als Mr. Lymon Pugh.

Vielleicht hätte ich doch nicht so froh sein sollen, ihn wiederzusehen, aber in dem Moment kam er mir wie der Abgesandte einer einfacheren und unbeschwerteren Welt vor. Ich gestand ihm, dass ich nicht damit gerechnet hatte, ihn jemals wiederzusehen, und gab meiner Hoffnung Ausdruck, der Posten hier im Palast möge endlich der Richtige für ihn sein.

»Jeder Palast ist besser als ein Schlachthof«, sagte er. »Und du? Ich habe dich zuletzt gesehen, da hattest du gerade diese Sängerin aus dem Thirsty Boot geheiratet.«

»Wir haben jetzt eine Tochter — du wirst sie noch kennenlernen!«

»Du hast auch ein Buch geschrieben, hat mir jemand gesagt.«

»Ein Heft über Captain Commongold und einen Roman, der sich genauso gut verkauft; und ich habe Charles Curtis Easton besucht, und wir haben die Köpfe zusammengesteckt und gearbeitet. Aber du hast sicher auch einiges vorzuweisen, lass hören!«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe bis heute gelebt, ohne zu sterben«, sagte er. »Das ist schon viel für meine Verhältnisse.«

Calyxa machte einen Bogen um Julian und The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin. Nachdem sie Partitur und Texte geliefert hatte, hatte sie keinerlei Bedürfnis mehr, sich auf Einzelheiten der Dreharbeiten einzulassen, zumal sie alle Hände voll zu tun hatte, Flaxie beim Erlernen so fundamentaler Fertigkeiten wie essen, aufrecht stehen und dergleichen zu helfen.

Sie traf sich wohl mit Parmentieristen-Freunden aus der Stadt, und Mrs. Comstock (bzw. Mrs. Godwin, woran ich mich partout nicht gewöhnen konnte) pflegte Kontakte mit gewissen einfacheren Eupatriden. Wichtiger noch, die beiden Frauen berieten sich und schmiedeten Pläne, wie sie Krisen begegnen wollten, die sozusagen über Nacht aus Julians politischer Situation entstehen konnten.

»Weißt du viel über das mediterrane Frankreich?«, fragte Calyxa mit gespielter Beiläufigkeit eines Septemberabends, als wir schon im Bett lagen.

»Nur dass es von Mitteleuropa als Territorium beansprucht wird, während Frankreich darauf besteht, eine unabhängige Republik zu sein.«

»In Frankreich muss das Wetter sehr mild sein, und Frankreich unterhält freundschaftliche Beziehungen zu anderen Teilen der Welt.«

»Soviel ich weiß, ja … und was ist damit?«