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»Ach, nur so — kann ja sein, dass wir eines Tages mal da leben müssen.«

Ganz von der Hand zu weisen war das nicht. Wir hatten diese Möglichkeit schon mehrmals diskutiert. Sollte zum Beispiel Julians Präsidentschaft zusammenbrechen und feindlich gesinnte Kräfte an die Regierung kommen, konnten wir alle (einschließlich Julian) gezwungen sein, das Land zu verlassen.

Aber ich hoffte inbrünstig, dass solche Umstände nie eintraten, und wenn, dann erst nach Jahren, wenn Flaxie älter war und eine solche Reise besser verkraften konnte. Mit einem Säugling auf eine Transatlantikreise zu gehen, den Gedanken wies ich weit von mir. Nicht einmal mit in die Stadt wollte ich Flaxie nehmen, besonders jetzt nicht, während eine neue Pockenart kursierte und jeder zweite Bürger eine Papiermaske vor der Nase trug.

»Man kann so was nicht im letzten Moment regeln«, sagte Calyxa. »So was muss im Voraus geplant werden. Wir haben uns für das mediterrane Frankreich entschieden …«

»Moment — wer ist ›wir‹?«

»Emily und ich, so unter uns. Ich habe unsere Parmentieristen gefragt, und sie meinen, Frankreich wäre eine ideale Zuflucht. Emily hat Beziehungen zu Schiffseignern — jetzt im Moment hätte sie zum Beispiel keine Probleme, eine Passage für uns zu buchen, was sich je nach politischer Wetterlage ändern kann.«

»Ich hoffe immer noch, mein Leben in Amerika zu verbringen und hier auch meine Bücher zu schreiben«, sagte ich.

»Du wärst nicht der einzige amerikanische Autor in Marseille. Man kann Manuskripte per Post schicken.«

»Und wenn mein Verleger nicht mitmacht?«

»Wenn die Lage in Manhattan noch brenzliger wird, Adam, dann hast du keinen Verleger mehr.«

Da hatte sie allerdings Recht. Nur dass es mich nicht aufmunterte, mir aber auch nicht in den Schlaf half.

Die Dreharbeiten an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin waren am Erntedankfest 2175 beendet. Die Arbeit an dem Film war damit noch nicht zu Ende. Was auf Zelluloid gebannt war, war nur der visuelle Teil des Werks; zur Vorführung bedurfte es immer noch der Synchronstimmen, Geräuschemacher, einer intensiven Einstudierung und mehrerer Proben in einem geeigneten Lichtspieltheater. Aber die härteste Arbeit war getan, insbesondere für die Techniker und Schauspieler, und deshalb hielt Julian es für angebracht, das Erreichte durch eine von ihm so bezeichnete Wrap Party zu feiern.

Das Gelände des Regierungspalasts war in Julians Amtszeit kein gesellschaftlicher Anziehungspunkt gewesen und nach den unangekündigten Enthauptungen völlig verwaist geblieben. Julian störte das nicht weiter; er legte keinen gesteigerten Wert auf die Gesellschaft hoher Eupatriden und schon gar nicht auf die Senatoren unter ihnen. Obwohl der Senat seinem Regime zunächst großzügig begegnet war, war es mit diesem Regierungsorgan genauso zu Reibereien gekommen wie mit dem Dominion. Julian hatte keine radikalen Arbeiterschutzgesetze erlassen[106], hatte sich aber geweigert, bei einem Sklavenaufstand in der Textilindustrie Truppen zu entsenden.[107] Seine stillschweigende Sympathie für die Rebellen brachte natürlich jene Senatoren auf, die Beziehungen zu dieser Industrie hatten, was zu scharfen Protesten aus dem Senat geführt hatte.

Mithin gab es keine freundlich gesinnten Eupatriden, die wir zu unserer Wrap Party hätten einladen können; doch Julian fand das nicht tragisch. Er hatte sich in zunehmendem Maße mit Ästheten und Philosophen umgeben, nicht bloß mit Filmleuten — ein kunterbunter Haufen aus Radikalen vornehmer Herkunft, Reformatoren, Musikern, parmentieristischen Traktateschreibern, Künstlern, denen es um mehr als Geld ging, und mehr Leuten dieses Schlags.

Die Party fand am letzten warmen Abend des Jahres statt. Obwohl uns der Erntedank ins Haus stand, herrschten tropische Temperaturen, und nach Einbruch der Dunkelheit eroberte die Feier den weitläufigen Rasen des Regierungspalasts. Die Leistung der hydroelektrischen Generatoren von New York City war unlängst aufgestockt worden, und die künstliche Stadtillumination verlieh den Wolken einen fahlen Glanz. Der Weiher und das Jagdrevier waren in Dunkel gehüllt und nahmen sich geheimnisvoll und romantisch aus. Nicht lange, und die Gäste samt Filmteam waren vom Champagner beschwipst. Man schlenderte oder tanzte über die Wiese, rauchte an abgeschiedenen Stellen Haschischzigaretten und benahm sich, während der Abend älter wurde, immer schamloser und ausgelassener.

Ich saß auf den Marmorstufen des Palastes und verfolgte den Trubel aus sicherer Entfernung. Nach einiger Zeit kam Pastor Magnus Stepney zu mir. »Alle freuen sich, Adam«, sagte er und brachte seine schlaksige Gestalt links neben mir auf die Stufe herunter.

»Trotzdem nur Spektakel«, sagte ich.

»Mögen Sie es nicht, wenn Menschen Spaß haben?«

Diese Frage war heikler, als er vielleicht ahnte. Ich hatte mich mit vielen der Feiernden angefreundet, vor allem mit denen am Set (Filmjargon), und hatte sie als anständige und wohlmeinende Zeitgenossen kennengelernt, also die allermeisten. Aber die Party begann alles hinter sich zu lassen, was ich damals in Williams Ford unter einer zivilisierten Feier verstanden hatte. Männer und Frauen, die nicht einmal miteinander verheiratet waren, tanzten zusammen zu obszönen Liedern oder spielten laut kichernd und lachend Fangen oder duldeten Zärtlichkeiten unter aller Augen. Manche aus dem Filmteam waren so berauscht, dass sie solche Intimitäten sogar Gleichgeschlechtlichen aufdrängten; und nicht selten wurden solche Zuwendungen sogar begrüßt.[108] »Kommt drauf an«, sagte ich. »Ich gönne jedem sein Vergnügen. Und ich schwinge mich nicht gerne zum Richter auf. Aber was ist denn mit Ihnen, Magnus? Sie sind Pastor, auch wenn Ihre Kirche aus der Reihe tanzt. Ermutigen Sie Ihre Gemeindemitglieder, sich so zu verhalten?«

»Mein Gott ist das Gewissen, Adam. Das habe ich auf unser Schild geschrieben, um die Unvorsichtigen zu warnen.«

»Und? Ist Ihr Gewissen glücklich, hier zu sitzen und zuzusehen, wie Ihre Freunde im Mondschein schwelgen und Unzucht treiben?«

»Es steht kein Mond am Himmel.«

»Sie weichen aus, Pastor.«

»Sie verstehen meine Lehre nicht. Vielleicht sollte ich Ihnen eine Broschüre geben. Ich ermuntere die Menschen, auf ihr Gewissen zu hören und der goldenen Regel[109] zu folgen und so weiter. Aber das Gewissen ist nicht der gemeine Aufsehertyp, für den viele es halten. Das wahre Gewissen spricht zu allen Menschen in allen Sprachen, und das gelingt ihm, weil es nur ein paar schlichte Dinge zu sagen hat. ›Liebe deinen Nachbarn wie deinen Bruder‹ und tue alles, was daraus folgt — besuche die Kranken, schlage weder Frauen noch Kinder, töte niemanden deines Vorteils wegen und so fort. Sie wissen, wie ich über das Gewissen denke, Adam? Ich halte das Gewissen für einen großen grünen Gott — buchstäblich grün, weil Grün die Farbe der Frühlingsblätter ist. Mit einem Lorbeerkranz vielleicht oder einem Feigenblatt, um das Nötigste zu bedecken. Dieser Gott sagt: Vertraut einander, auch wenn euch nicht vertraut wird. Er sagt: Tut, was ich euch sage, und ihr werdet wieder im Paradies sein. Schon mal von der Spieltheorie gehört, Adam Hazzard?«

Ich verneinte. Es handle sich dabei um eine obskure Wissenschaft der Säkularen Alten, erklärte Magnus Stepney. Sie habe mit der Mathematik von Abmachungen zu tun und mit der Mathematik von wechselseitig vorteilhaften Tauschgeschäften, um nur einiges zu nennen. »Im Grunde genommen, Adam, unterstellt die Spieltheorie, dass es zwei Möglichkeiten für menschliches Handeln gibt. Man kann vertrauenswürdig sein und anderen vertrauen, oder man kann um des eigenen Vorteils willen nicht vertrauenswürdig sein. Der Vertrauenswürdige geht eine Abmachung ein und hält sich daran. Der Nicht-Vertrauenswürdige geht die gleiche Abmachung ein und ist mit dem Geld auf und davon. Das Gewissen sagt uns: ›Sei der Vertrauenswürdige!‹ Das ist sehr viel verlangt, denn der Vertrauenswürdige wird oft betrogen und ausgenutzt; während der Nicht-Vertrauenswürdige nicht selten auf dem Thron sitzt oder von der Kanzel predigt und in seinem Reichtum schwelgt. Würden wir alle dem Nicht-Vertrauenswürdigen nacheifern, wäre das die ewige Hölle gegenseitigen Ausplünderns; würden wir aber alle dem Vertrauenswürdigen nacheifern, wäre das der Garten Eden. Wenn es ein Himmelreich gibt, Adam, ist es ein Ort, an dem wir einander ohne Zögern trauen können.«

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106

Sehr zu Calyxas Enttäuschung und Empörung.

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107

Im Juli 2175 hatte eine Revolte unter den abhängigen Arbeitern einer Rohseidenspinnerei in Ohio auf benachbarte Seidenbandfabriken und Färbereien übergegriffen. Bei den Ausschreitungen waren mehr als hundert Menschen ums Leben gekommen.

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108

Um fair zu sein, setzten sich viele dieser Menschen über die Erwartungen in Bezug auf männliches oder weibliches Verhalten selbst dann hinweg, wenn sie stocknüchtern waren. Das ist nach meinen Erfahrungen eine verbreitete Schwäche unter Theaterleuten.

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109

Matth. 7,12: Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, sollt auch ihr ihnen tun.