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Ich fragte Pastor Stepney, ob er Alkohol getrunken habe. Er verneinte.

»Gut«, sagte ich, »dann ist diese lärmende Party also ein Beispiel für das Paradies?«

»Das Gewissen ist kein brutaler Zuchtmeister. Das Gewissen nimmt keinen Anstoß an einem Kuss im Dunkeln, vorausgesetzt, er wird freiwillig gegeben und freiwillig erwidert. Das Gewissen nörgelt nicht an unserem Musikgeschmack herum, nicht an unserer Kleidung oder Lektüre oder an unseren Schmusereien. Es lächelt über Intimitäten und hasst den Hass. Es geißelt nicht die unbekümmert Liebenden.«

Das war eine interessante Lehre, sie kam mir vernünftig vor, war aber zweifellos ketzerisch.

»Kurzum also, ja«, sagte er und machte eine Geste, die das mit Champagner und Haschisch angeheizte Fest meinte, das ringsherum im Gange war, »man kann das alles durchaus als eine erste Annäherung an das Paradies betrachten.«

Ich wollte ihn fragen, was das lorbeerbekränzte und notdürftig mit einem Feigenblatt bekleidete Gewissen denn von Julians Konflikt mit dem Dominion hielt oder vom Aufspießen menschlicher Köpfe am Broadway Gate. Doch Pastor Stepney war schon aufgestanden und ging — vermutlich, um sich seinerseits zu amüsieren. Also folgte ich seinem Rat und versuchte die ganze Schwelgerei, die sich vor mir entfaltete, so zu nehmen, als sei sie ein Vorgeschmack auf die Belohnung, nach der wir Christen trachteten; und meine Bemühungen hatten auch einen gewissen Erfolg, bis ein betrunkener Kameramann die Palaststufen hinaufgetorkelt kam, innehielt und mir vor die Füße kotzte.

Mir fiel auf, dass die Party ohne Julian stattfand. Bei der Eröffnung war er kurz auf einem der Innenbalkons erschienen, auf denen Deklan der Eroberer früher die Gäste zur Feier des Unabhängigkeitstags begrüßt hatte — doch dann hatte er sich zurückgezogen, und seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Das war nicht ungewöhnlich, denn seine Stimmung schwankte ständig, und er neigte zunehmend dazu, in der Bibliothek oder sonst wo im Labyrinth des Palastes zu hocken und vor sich hin zu brüten. Beunruhigt war ich erst, als Lymon Pugh die Marmorstufen herunterkam, die herumtanzenden Ästheten mit einem angewiderten Blick bedachte und mich bat, mit ihm in den Palast zu kommen, um nach Julian zu sehen.

»Warum, wo ist er?«

»Im Thronsaal mit Sam Godwin. Sie brüllen sich schon eine Stunde lang an, ganz fürchterlich. Vielleicht musst du eingreifen, bevor sie handgreiflich werden. Kannst du noch gerade gehen?«

»Ich bin völlig nüchtern.«

»Da bist du aber der Einzige.«

»Bist du schockiert, Lymon?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe größere Saufgelage erlebt. Aber da, wo ich herkomme, enden sie meistens in einer Massenschlägerei.«

Ich folgte ihm zum »Thronsaal«, wie Lymon und andere Mitglieder der Republikanischen Garde das Amtszimmer des Präsidenten nannten. Vielleicht sollte man ihnen die Übertreibung nachsehen. Das Amtszimmer war ein riesiger, quadratischer Raum mitten im Palast, gefliest und fensterlos und Tag und Nacht in elektrisches Licht gebadet. Die hohe Decke zeigte ein Gemälde von Otis auf seinem Kanonenboot in der lange zurückliegenden Schlacht auf dem Potomac.[110] Hier unterschrieben die Präsidenten Proklamationen und empfingen ausländische Botschafter oder Delegationen des Senats bei formellen Anlässen. Der Saal sollte Würde und Macht des Präsidenten unterstreichen. Der Lehnstuhl des Präsidenten war nicht direkt ein Thron, kam aber diesem Begriff so nahe, wie es sich für einen republikanischen Stuhl gehörte: Er war aus dem Kernholz einer edlen Eiche geschnitzt, purpurrot gepolstert und mit Blattgold verziert und stand auf einem Marmorpodest. Eben jetzt saß Julian schräg in diesem Stuhl, während vor ihm ein wütender Sam in kurzen Schritten auf und ab ging.

»Viel Glück«, flüsterte Lymon und duckte sich aus dem Raum. Es war zu spät, um mich anzukündigen, denn ich war bereits drinnen. Weder Sam noch Julian nahmen Notiz von mir, so heftig war ihre Auseinandersetzung. Die Echos flogen zwischen Zierfliesen und Decke hin und her.

Ich konnte es überhaupt nicht leiden, Julian so unglücklich zu sehen; auch nicht, dass Sam derart mit ihm schimpfte. Es ging um irgendeine Entscheidung, die Julian ohne Sams Wissen und Billigung getroffen hatte.

»Machst du dir eigentlich klar, was du getan hast?«, schrie Sam. »Was das für Konsequenzen hat?«

»Mich interessiert nur eine Konsequenz«, erwiderte Julian, »und das ist der Tod einer alten und hässlichen Tyrannei.«

»Was du erreichst, ist ein Bürgerkrieg!«

»Das Dominion ist eine Schlinge um den Hals der Nation, und ich will das Seil endlich kappen.«

»Und ich sehe einen anderen Hals in der Schlinge, wenn du nicht davon ablässt! Du tust, als könntest du alles proklamieren, was dir in den Sinn kommt, und es dann mit Soldaten durchsetzen …«

»Und? Kann ich das nicht? Hat mein Onkel nicht genau das getan?«

»Und wo ist dein Onkel jetzt?«

Julian sah beiseite.

»Die Feinde des Präsidenten haben einen Dolch in der Hand«, fuhr Sam fort. »Je mehr Feinde, umso mehr Dolche. Du hast das Dominion beleidigt — gut, das lässt sich nicht ungeschehen machen. Du hast dich über den Senat hinweggesetzt, was schon gefährlich genug ist. Und wenn diese Befehle die Kalifornische Armee erreichen …«

»Die Befehle sind unterwegs. Sie können nicht mehr zurückgenommen werden.«

»Du meinst, du willst sie nicht zurücknehmen!«

»Nein«, sagte Julian leiser, aber nicht weniger feindselig. »Nein, ich will nicht.«

Im Blickfeld des »Throns« waren kleinere Stühle aufgereiht, vermutlich für niedrigere Würdenträger. Sam trat einen dieser Stühle, dass er kreischend über die Fliesen fuhr und umkippte. »Ich lasse nicht zu, dass du Selbstmord begehst!«

»Du tust, was ich dir sage, und hältst den Mund! Dass du meine Mutter geheiratet hast, gibt dir nicht das Recht, über mich zu bestimmen! Du bist nicht mein Vater. Mein Vater wurde von Deklan getötet.«

»Wenn ich dich all die Jahre beschützt habe, Julian, dann aus Loyalität zu deinem Vater und aus Zuneigung zu dir und aus keinem anderen Grund! Ich habe keinerlei Interesse an einem Thron und will auch dem Mann nicht reinreden, der darauf sitzt!«

»Aber du hast mich nicht beschützt, Sam, und du redest mir hinein! Verdammt, ich hätte auf dem Goose-Bay-Feldzug krepieren sollen! Alles, was seitdem passiert ist, ist nur ein lächerlich verlängerter letzter Atemzug — geht das in deinen Kopf?«

»So etwas hättest du deinem Vater nicht sagen dürfen.«

»Was du meinem Vater schuldest, ist deine Sache. Meine Schuld habe ich getilgt, mit Deklans Kopf.«

»Du kannst dein Gewissen nicht mit einer Hinrichtung beruhigen! Bryce Comstock würde dir dasselbe sagen.«

Julian schrie nicht mehr, aber seine Erregung war nicht abgekühlt. Sie war abgetaucht und funkelte in seinen Augen wie ein reißender Strom, den man durch eine Gletscherspalte sieht. »Danke für deinen Rat. Aber es gibt nichts mehr zu bereden. Du kannst gehen.«

Sam sah aus, als wolle er noch einen Stuhl umtreten. Aber er tat es nicht. Er gab sich geschlagen und kam mit hängenden Schultern zur Tür.

»Rede mit ihm«, flüsterte er, als er vorbeikam. »Auf mich hört er nicht.«

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110

Gemeint ist natürlich der ehemalige Präsident und nicht die nach ihm benannte Giraffe.