»Tut mir leid, was du mit anhören musstest«, sagte Julian. Sams Schritte verebbten im Korridor.
Ich näherte mich dem Marmorpodest. »Lymon Pugh hat mir einen Wink gegeben. Er hatte schon Sorge, ihr würdet euch prügeln.«
»Es hat nicht viel gefehlt.«
»Was hast du getan, dass Sam so wütend war?«
»Einen Krieg erklärt, meint Sam.«
»Hast du noch nicht genug vom Krieg?«
»Wir haben es diesmal nicht mit den Deutschen zu tun, sondern mit einer Rebellion in Colorado Springs. Gestern hat der Dominion-Rat seinen Gemeindediakonen befohlen, sich jeder Anordnung des Präsidenten zu widersetzen, die den ekklesiastischen Bestimmungen widerspricht.«
»Das nennst du eine Rebellion? Das hört sich eher wie etwas Juristisches an.«
»Darin kommt ganz klar der Wunsch zum Ausdruck, mich zu stürzen!«
»Und das kannst du vermutlich nicht zulassen.«
»Heute Abend habe ich die Stadt Colorado Springs zum rebellischen Territorium erklärt und die Kalifornische Armee angewiesen, die Stadt einzunehmen und den Ausnahmezustand zu verhängen.«
»Eine ganze Armee, um eine einzige Stadt zu besetzen?«
»So viel wie nötig ist, um den Rat zu stürzen und die Dominion-Akademie niederzubrennen. Kollaborierende Diakone, die mit dem Leben davonkommen, werden wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gebracht.«
»Colorado Springs ist eine amerikanische Stadt, Julian. Die Armee wird nicht erbaut sein, auf Amerikaner zu schießen.«
»Die Armee hat viele Meinungen, aber nur einen Oberbefehlshaber.«
»Bei den Kämpfen kommen doch sicher Unschuldige ums Leben.«
»Welcher Kampf hat jemals die Unschuldigen verschont?« Julian blickte finster drein. »Meinst du, ich kann in diesem Stuhl sitzen und mir kein Blut vorstellen, Adam Hazzard? Blut, ja; Blut, bitte sehr! Blut auf allen Seiten! Blut in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Ich habe mir dieses Amt nicht ausgesucht, aber ich mache mir nichts vor über seinen Charakter.«
»Gut«, sagte ich, um keinen weiteren Gefühlsausbruch zu provozieren, »ich glaube, am Ende ist alles wieder in Ordnung, wenn du das sagst.«
Er starrte mich an, als hätte ich ihm widersprochen. »Es gibt Regeln für das Betreten dieses Raums — weißt du das, Adam? Ich glaube nicht. Besucher verbeugen sich üblicherweise, wenn sie über die Schwelle treten. Senatoren verbeugen sich, Botschafter aus fernen Ländern verbeugen sich, selbst der Klerus muss sich verbeugen. Diese Regel kennt meines Wissens keine Ausnahme für Pächterburschen aus Athabaska.«
»Nein? Na ja, schön ist der Raum ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob er irgendwelche Bücklinge meinerseits erfordert. Ich habe mich nicht vor dir verbeugt, als wir am River Pine Eichhörnchen gejagt haben, und glaube nicht, dass ich mich jetzt noch daran gewöhnen könnte. Ich kann gehen, wenn du möchtest.«
Ich muss wohl scharf geklungen haben. Julians Miene blieb ein, zwei Atemzüge lang unbewegt. Dann schlug sie wieder um.
Er lächelte, es war kaum zu glauben. Einen Moment lang sah er um Jahre jünger aus. »Adam, Adam … es hätte mich mehr verletzt, wenn du dich verbeugt hättest. Du hast Recht, und es tut mir leid, dass ich es erwähnt habe.«
»Schwamm drüber, für diesmal.«
»Ich bin müde und das Streiten leid.«
»Dann solltest du schlafen gehen.«
»Nein — das funktioniert nicht. Ich kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen. Aber wir könnten wenigstens aufhören, über Colorado Springs zu reden. Willst du mal etwas Ungewöhnliches sehen, Adam? Etwas aus den Tagen der Säkularen Alten?«
»Du machst mich neugierig.«
Was mich in letzter Zeit an Julian stutzig gemacht hatte, war das häufige und abrupte Umschlagen seiner Stimmung — ein jähes Hin und Her wie bei Elritzen im Fischteich. Das hatte sich zuerst bei der Arbeit an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin gezeigt. Er konnte unangekündigt am Set erscheinen und sich wie ein orientalischer Tyrann gebärden, kleinliche Änderungen am Bühnenbild verlangen oder Schauspieler schikanieren … Dann verließ ihn die Willkür so rasch wie ein Wolkenschatten, der eine Lichtung überquert, und Julian lächelte verlegen und war gleich wieder mit Entschuldigungen und Lob bei der Hand. »Manchmal setzt Euer Gnaden die Krone auf«, hatte Magnus Stepney einmal gesagt, »und manchmal setzt er das verdammte Ding wieder ab.«
Ich wünschte, er würde die Krone überhaupt nicht mehr tragen; weil sie ihn quälte und despotisch machte und seinen Geist verwirrte.
Er trat von seinem Podest herunter und legte mir den Arm um die Schulter. »Ein frischer Fund aus dem Dominion-Archiv. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dort wären uralte Kinofilme versteckt?«
»Ja — aber welche, die wir nicht abspielen können.«
»Und ich wollte Techniker darauf ansetzen. Siehst du, und wir sind inzwischen ein Stück vorangekommen. Begleite mich nach unten, Adam, und ich zeige dir einen Film, der zweihundert Jahre auf uns gewartet hat.«
Es stellte sich heraus, dass Julian im unterirdischen Teil des Palastes ein Studio eingerichtet hatte, in dem man sich nicht nur mit antiken Filmen, sondern auch mit Darwin befasste. Normalerweise mied ich das Tiefgeschoss — da unten fror man selbst bei warmem Wetter, und ich hatte von den Gefängniszellen und Verhörräumen gehört. Das Studio war allerdings ganz modern eingerichtet und leidlich warm. Hier gab es ungewöhnliche Apparate und rätselhafte chemische Bäder und eine makellos weiße Leinwand auf der einen Seite und einen großen komplizierten Filmprojektor auf der anderen.
»Die meisten Filme, die wir gefunden haben, waren verwahrlost und hoffnungslos zerfressen«, sagte Julian. »Selbst die besten waren nur noch teilweise zu retten, aber was wir retten konnten, ist ein einzigartiger Schatz«, und ich hörte in seiner Stimme das Echo eines Julian Comstock, der mit der gleichen verzückten Faszination auf der Halde bei Williams Ford ein Buch nach dem anderen in die Hand genommen hatte. »In der letzten Zeit bin ich nachts viel hier unten, wenn es still und leise ist, und sehe mir diese Fragmente an. Hier«, sagte er und nahm eine tortengroße Blechdose auf, »dieser Film heißt On the Beach und stammt aus dem 20. Jahrhundert[111] — eine halbe Stunde davon. Das Original war natürlich länger und besaß aufgezeichneten Ton und solche Raffinessen.«
Ich nahm mir einen Stuhl, während er den alten Film, den seine Leute auf modernes Zelluloid kopiert hatten, in den Projektor fädelte. Es war schon nach Mitternacht, und Calyxa würde zu Hause auf mich warten, doch ich spürte, dass Julian hier und jetzt meine Gesellschaft brauchte; ich hatte Angst, er könne sonst in eine tiefere Depression fallen oder noch einen Krieg vom Zaun brechen. »Wovon handelt er?«
Der Projektor, angetrieben von den schlaflosen Palastgeneratoren, erwachte summend und rasselnd zum Leben. »Von Schiffen und anderen Dingen. Du wirst schon sehen.« Julian stellte die Beleuchtung dunkler.
Ich gebe zu, dass ich das meiste, was sich auf der Leinwand abspielte, nicht verstand. Grelle Lücken und Löcher trugen das Ihre dazu bei. Viele Szenen waren wie ausgebleicht, beinah gespenstisch. Unsere Unfähigkeit, aufgezeichneten Ton wiederzugeben, beeinträchtigte die Verständlichkeit des Films, der zum großen Teil Leute zeigte, die sich unterhielten. Trotzdem gab es viele verblüffende und ungewöhnliche Dinge zu sehen.
Da war zum Beispiel ein Unterwasserschiff; nach Julian nannte man es »Unterseeboot« oder »U-Boot«. Das Innere sah wie der Maschinenraum eines modernen Dampfers aus, nur komplizierter, mit zahllosen Uhren, Hebeln, Rohren, Knöpfen und blinkenden Lichtern; und die Schiffsbesatzung trug Uniformen, die dauernd blitzsauber und frisch gestärkt waren.
Aber nur ein paar Szenen spielten auf See. Manche spielten in einer Stadt der Säkularen Alten. Auf den Straßen fuhren Automobile, zumindest anfangs, aber nicht so viele, wie man hätte denken können, und danach überhaupt keine mehr. Die Leute in der Stadt benahmen sich, als ob sie sehr reich und exzentrisch wären, aber exzentrischer als reich.