Wir näherten uns dem Gästehaus, in dem Calyxa, Flaxie und ich zurzeit noch wohnten. Ich wusste nicht, warum ich so traurig war, doch ich wollte nicht, dass Lymon Pugh es mitbekam, also hielt ich den Mund.
»Du hast eine wunderbare Familie, Adam Hazzard«, sagte er. »Pass gut auf sie auf. Nur das ist deine Aufgabe, sagt dir ein einfacher Gardist, der jetzt schlafen geht.« Er kehrte mir den Rücken. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht«, brachte ich heraus.
Ich wartete an der Haustür, während Lymon Pugh zurück zum Palast ging.
Die Nacht war so außerordentlich still, wie sie es in der Stunde vor dem ersten Schimmer des neuen Tages zu sein pflegt — die Stille hängt wie ein sanfter Geist über der regungslos verharrenden Welt.[113] Hinten in der Dunkelheit gewahrte ich eine riesige Silhouette, die schwerfällig zwischen den Bäumen dahinschritt — es war Otis, der auf dem besten Wege war, eine nachtaktive Giraffe zu werden. Vielleicht genoss er gerade diese einsamen Stunden des frühen Morgens; oder fand einfach nicht in den Schlaf, wie andere auch.
Ich blickte noch eine Zeit lang in die Dunkelheit hinaus. Dann ging ich ins Haus und kroch, als sich der erste Glanz in den Himmel schlich, zu Calyxa ins Bett und kuschelte mich in die Wärme ihres schlafenden Körpers.
8
Von der nächtlichen Wrap Party, die den Abschluss der Dreharbeiten an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin beging, bis zur Premiere des Films in einem plüschigen Broadwaytheater brauchte es keinen Monat mehr. Normalerweise eine kurze Zeitspanne; doch eine schreckliche Ewigkeit für den amtierenden Präsidenten …
Sam Godwin, der engen Kontakt zum Militär unterhielt, hatte die undankbare Aufgabe übernommen, Julian die schlechten Nachrichten zu überbringen — eine Rolle, die er immer öfter zu spielen hatte. Es war Sam, der Julian berichtete, die Kalifornische Armee sei in Colorado Springs auf heftigen Widerstand ekklesiastischer Kräfte gestoßen. Es war Sam, der ihm berichtete, die Rocky Mountain Division dieser Armee habe rebelliert und sei zu den Streitkräften des Dominion of Jesus Christ on Earth übergelaufen. Es war Sam (und ich beneidete ihn um diese Aufgabe am allerwenigsten), der gezwungen war, Julian davon in Kenntnis zu setzen, dass die Befehlshaber der Kalifornischen Armee nach dem breiten, aber vergeblichen Einsatz von Artillerie und Brandbeschleunigern mit dem Dominion-Rat einen Waffenstillstand ausgehandelt und die einseitige Feuereinstellung erklärt hatten — alles gegen Julians ausdrücklichen Befehl.
Sam kam aschfahl und kopfschüttelnd aus dieser Unterredung. »Manchmal, Adam«, vertraute er mir an, »weiß ich nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Er tut so, als seien diese Rückschläge belanglos oder zu weit entfernt, um hier noch eine Rolle zu spielen. Dann wieder tobt und wütet er, als sei ich an allem schuld, und sperrt sich anschließend in diesen Projektionsraum, um sich mit seinen Filmen zu betäuben.«
Es sollte noch schlimmer kommen. Nur drei Tage vor dem Debüt von Charles Darwin erreichte uns die Nachricht, die Befehlshaber der Laurentischen Armee hätten sich mit ihren Kameraden in Kalifornien solidarisiert und die Möglichkeit erwogen, nach New York zu marschieren, um Julian den Eroberer abzusetzen. Als möglicher Nachfolger sei Admiral Fairfield im Gespräch (der so erfolgreich auf See gewesen war). Das musste für Julian ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, denn er bewunderte den Admiral, der ihn im Goose-Bay-Feldzug nicht im Stich gelassen hatte.
Diese kleinen und großen Revolten ließen das Fundament seiner Präsidentschaft erodieren; doch Julian fuhr fort, die Premiere vorzubereiten. Die örtlichen Kirchen riefen bereits zum Boykott auf, und es würde nötig sein, das Lichtspieltheater mit Republikanischer Garde abzuriegeln, um Ausschreitungen zu verhindern. Nichtsdestoweniger lud Julian uns alle ein, ließ die schönsten Kutschen bereitstellen und bat uns, die besten Sachen anzuziehen, um eine Galapremiere daraus zu machen; und das taten wir auch, weil wir ihn mochten und weil es vielleicht die letzte Gelegenheit war, ihm eine solche Ehre zu erweisen.
Eine Phalanx vergoldeter Kutschen, allseits von berittenen und bewaffneten Gardisten eskortiert, verließ an dem betreffenden Nachmittag das Palastgelände.
Calyxa und ich fuhren in einer der mittleren Kutschen, vor uns fuhren Julian und Magnus Stepney und hinter uns Sam und Julians Mutter. Es war kurz vor Weihnachten, aber die Straßen von Manhatten waren alles andere als fröhlich. Julian hatte Kreuzbanner entfernen lassen, damit die Scharfschützen freie Sicht hatten, die er auf allen Dächern zwischen Zehnter und Madison Avenue platziert hatte. Doch die Straßen waren ohnehin nicht bevölkert, zum Teil wegen der neuen Pocken — vor denen Dr. Polk letzten Sommer gewarnt hatte —, die in zwielichtigen Impfläden an junge eupatridische Damen und über diese in alle Lebensbereiche New York Citys übertragen worden waren.
Diese Pocken waren Gott sei Dank nicht besonders ansteckend — nicht mehr als einer von vierzig oder fünfzig New Yorkern war daran erkrankt —, aber der Verlauf war qualvoll und endete tödlich. Es kam zu Fieberschüben und Verwirrtheitszuständen, am ganzen Körper bildeten sich gelbe Pusteln (besonders am Hals und in den Leisten), die schließlich aufbrachen und zu bluten begannen, woraufhin ein rascher Verfall zum Tode führte. Für viele Grund genug, trotz Vorweihnachtszeit zu Hause zu bleiben; und viele Fußgänger, an denen wir vorbeifuhren, trugen Papiermasken über Mund und Nase.
Das alles und ein kalter Nordwind verliehen dem New Yorker Weihnachten eine gewisse Tristesse.
Die Furcht vor den Pocken hatte das öffentliche Leben aber nicht ganz zum Erliegen gebracht, zumal es hieß, die Krankheit werde nicht bloß durch beiläufigen Kontakt übertragen. Das Lichtspielhaus war strahlend hell erleuchtet, die Bürgersteige wimmelten von Besuchern und Neugierigen; der Kastanienröster kam nicht zur Ruhe.
Das Vordach des Theaters verkündete den Filmtitel, und ein Spruchband setzte hinzu: THE WORLD DEBUT OF JULIAN CONQUEROR’S BRILLIANT AND STARTLING CINEMATIC MASTERPIECE![114] Ein Kordon Republikanischer Gardisten hielt alle Unruhestifter außen vor, darunter Gruppen, die von Kirchenkomitees gleichsam als Verbeugung vor dem Dominion hergeschickt waren. Den besonders Frommen und Konservativen war der Film natürlich ein Dorn im Auge; doch es gab mehr als genug Ästheten, Philosophen, Agnostiker und Parmentieristen in Manhattan, um diese Scharte auszuwetzen. Diese Klientel wollte Julian erreichen, und sie war in großer Zahl angerückt.
Julian stieg aus, als unsere Kutsche zum Halten kam. Er würde sich den Film aus einer geschützten Loge oberhalb der Galerie ansehen, zusammen mit Magnus Stepney, der nun mal der Star des Films war. Für Sam und Julians Mutter war eine ähnliche Loge vorgesehen, während für Calyxa und mich Plätze am Orchestergraben reserviert waren. Wir hatten das weite Foyer kaum halb durchschritten, als ein Mann, in dem ich den Theaterdirektor erkannte, auf uns zugestürzt kam.
»Mrs. Hazzard!«, rief er. Er hatte mit ihr als Texterin und Komponistin des Films zu tun gehabt.
»Ja, was gibt es?«, fragte Calyxa überrascht.
»Ich habe versucht, Sie zu erreichen! Wir haben ein unerwartetes und ernstes Problem, Mrs. Hazzard. Wie Sie wissen, singt Candita Bentley[115] den Part der Emma. Aber Candita ist krank — eine plötzliche Attacke — Pocken!«, sagte er hinter vorgehaltener Hand. »Die Zweitbesetzung auch!«
»Die Vorstellung fällt aus?«
»Das dürfen Sie nicht einmal flüstern! Nein, auf keinen Fall; aber wir brauchen eine neue Emma, zumindest für die Lieder. Ich könnte jemanden vom Chor kommen lassen; aber ich dachte — da Sie doch die Partitur geschrieben haben und alle sagen, Sie hätten die Stimme dazu — ich weiß, das ist ein absurdes Ansinnen, und ich weiß auch, dass Sie nicht geprobt haben …«
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Eine Broadway-Synchronsängerin, berühmt wegen ihrer silberhellen Stimme und ihres imposanten Leibesumfangs.