Und was dann? Ich wollte nicht darüber nachdenken — nicht hier draußen auf dieser verlassenen Straße, weit über die Halde hinaus und weiter denn je von Williams Ford entfernt; nicht hier draußen, wo sich ringsum nur klirrende Marsebenen erstreckten und zum ersten Mal ein Wind an den Fransen meiner Jacke zu zupfen begann. Nicht, solange mein Schatten zur Vogelscheuche verzerrt vor mir herritt. Es war kalt und wurde immer kälter, und gleich würde der Wintermond am Himmel stehen: Und ich ritt mit meinen paar Unzen Schweinefleisch in der Satteltasche und einem Dutzend Zündhölzer, um bei Einbruch der Dunkelheit Feuer zu machen, falls sich etwas Brennbares fand. Ich fing an mich zu fragen, ob ich den Verstand verloren hatte. Ich hätte umkehren können; noch wurde ich nicht vermisst; es war Heiligabend und noch nicht zu spät, mich an den festlich gedeckten Tisch zu setzen und rechtzeitig aufzuwachen, um zu hören, wie das Weihnachtsfest eingeläutet wurde, und die herrlichen Weihnachtsäpfel zu riechen, die mit Zimt und braunem Zucker getränkt waren. Ich grübelte und grübelte, manchmal mit Tränen in den Augen; doch ich ließ mich von Rapture weitertragen; dahin, wo der Horizont am dunkelsten war.
Endlich — nach scheinbar endlosen Dämmerstunden und einer kurzen Rast, als Rapture und ich aus einem Bach tranken, auf dem eine zerbrechliche Eishaut schwamm — tauchten rechts und links die ersten Ruinen der Säkularen Ära auf.
Nichts Aufsehenerregendes. Fantasiereiche Zeichnungen stellen die Ruinen des letzten Jahrhunderts nicht selten als hoch aufragende Gebäude dar, zerklüftet und hohl wie von Karies zerstörte Zähne — Ruinen, die von Kletterpflanzen durchwucherte Schluchten und düstere Sackgassen bilden.[9] Kein Zweifel, solche Orte gibt es — die meisten allerdings im unbewohnbaren Südwesten, wo der Hunger herrscht und sein Zepter über ein Dominion schwingt, das eigens für ihn geschaffen wurde[10], was natürlich Kletterpflanzen und ähnliches Tropenzeug ausschließt — doch die meisten Ruinen waren wie diese hier, bloße Unregelmäßigkeiten (oder genauer: Regelmäßigkeiten) in der Landschaft, die auf ehemalige Fundamente schließen ließen. Diese Gebiete waren tückisch, verbargen oft tiefe Kellergeschosse, die urplötzlich ihre hungrigen Mäuler aufreißen konnten; nur die Kipper liebten solche Gegenden. Ich wich nicht vom Weg ab, obwohl ich mich zu fragen begann, ob Julian wirklich so leicht zu finden war, wie ich mir das vorgestellt hatte — »Lundsford« war ein ansehnliches Terrain, und der Wind hatte längst begonnen, die Hufspur zu verwehen, auf die ich mich bis jetzt verlassen hatte.
Gedanken an die Falsche Drangsal des letzten Jahrhunderts suchten mich heim. Es passierte nicht selten, dass man in solchen Gegenden auf ausgedörrte, alte Knochen stieß. Bei den schlimmsten Verwerfungen, die das Ende des Öls mit sich gebracht hatte, waren Millionen Menschen ums Leben gekommen: durch Krankheit, Krieg und Hunger — vor allem durch Hunger. Die Ära des Öls hatte eine wilde Düngung und Bewässerung zugelassen und infolgedessen mehr Menschen sattgemacht, als es eine bescheidenere Landwirtschaft gekonnt hätte. Ich hatte Fotos von Amerikanern aus dieser ruinösen Ära gesehen: zu Skeletten abgemagert, die Kinder mit Blähbäuchen, zusammengepfercht in »Versorgungslagern«, die über kurz oder lang zu Gemeinschaftsgräbern wurden, wenn die »Versorgung« ausblieb. Kein Wunder also, dass unsere Altvorderen jene Dekaden für die in der Bibel prophezeite Drangsal gehalten hatten. Erstaunlich nur, wie viele unserer heutigen Institutionen — die Kirche, die Armee, die Bundesregierung — mehr oder weniger intakt überdauert hatten. Es gab eine Passage in der Dominion-Bibel, die Ben Kreel uns jedes Mal vorlas, wenn in der Schule die Sprache auf die Falsche Drangsal kam; ich kann sie auswendig: Das Feld ist verwüstet, das Land trauert; denn das Getreide ist verdorrt, die Reben sind vertrocknet, das Öl versiegt. Schämt euch, ihr Bauern; weint nur, ihr Winzer; weint um den Weizen, weint um die Gerste, denn die Früchte des Feldes sind zugrunde gegangen …
Es hatte mich damals schaudern lassen, und ich schauderte jetzt in diesem Ödland, das zu nichts mehr nutze war, ausgeplündert durch ein Jahrhundert der Maßlosigkeit. Wo in diesem Trümmerfeld steckte Julian? Und wo war sein Verfolger?
Sein Feuer führte mich zu ihm. Und ich war nicht der Erste, der ihn finden sollte.
Als ich zu den jüngsten Ausgrabungsstätten von Lundsford kam, war die Sonne endgültig untergegangen; ein Halbmond trübte die zarte Röte, die noch über dem nördlichen Himmel spielte. Die provisorischen Unterkünfte der Kipper — primitive Hütten aus altem Bauholz — waren um diese Jahreszeit verwaist, und leiterartig zusammengezimmerte Rampen führten in die leeren Grabungen.
Der Schnee war zu Haufen und Dünen verweht, und alle Hufabdrücke waren verwischt. Aber ich ritt langsam und hielt die Umgebung im Auge, wohl wissend, dass ich kurz vor dem Ziel war. Mir gab die Beobachtung Auftrieb, dass Julians Verfolger, wer immer es war, nicht auf diesem Weg von seiner Mission zurückgekehrt war, also Julian nicht gefangen genommen hatte oder zumindest nicht mit seinem Gefangenen im Schlepptau nach Williams Ford zurückgeritten war. Vielleicht hatte er die Verfolgung bis zum Morgen ausgesetzt.
Ein wenig später — eine schiere Ewigkeit, in der Rapture mit kleinen Schritten der überfrorenen Straße folgte und lauter Fallgruben auswich — vernahm ich das Wiehern eines anderen Pferdes und gewahrte eine Rauchfahne, die sich in den mondhellen Himmel kräuselte.
Rasch lenkte ich Rapture von der Straße und band die Zügel an den Stumpf eines Betonpfeilers. Ich nahm die Eichhörnchenbüchse aus dem Sattelhalfter und näherte mich zu Fuß der Quelle des Rauchs, bis ich bemerkte, dass er aus einem Bodenspalt kam, womöglich aus der Kaverne, in der die Kipper vor Monaten A History of Mankind in Space gefunden hatten. Bestimmt hatte Julian sich hier eingenistet, um auf Sam zu warten. Ich schlich mich an und entdeckte Julians Pferd, unverkennbar edlen Geblüts (in den Augen seines Eigentümers, davon bin ich überzeugt, mehr wert als hundert Julian Comstocks), das an irgendeinem Auswuchs angeleint war — und zu meiner Bestürzung nicht weit davon ein weiteres Pferd. Das zweite Tier war mir fremd; es war knochig und sah älter aus, trug aber militärisches Zaumzeug und eine Art Stofflatz — blau mit einem roten Stern —, der es als Pferd der Reserve auswies.
Ich überdachte die Situation aus dem Mondschatten eines heruntergebrochenen Pfeilers.
Der Rauch konnte bedeuten, dass Julian in die Kaverne geklettert war, um Schutz vor der Kälte zu suchen und sein Feuer über die Nacht zu retten. Das zweite Pferd konnte bedeuten, dass es bereits zu einer Konfrontation zwischen ihm und seinem Verfolger gekommen war.
Mehr war nicht abzuleiten. Mir blieb nur eins, ich musste näher heran.
Ich schlich noch einen Meter voran. Im Mondschein war zu erkennen, dass es sich um eine tiefe, aber enge Ausgrabung handelte, die teilweise mit Brettern abgedeckt war; der schräg abfallende Zugang war oben und seitlich mit altem Bauholz verschalt. Von hier war der Feuerschein gerade noch auszumachen, dasselbe galt für die Abzugsöffnung etwas weiter südlich in den Brettern. Es gab, soweit ich das beurteilen konnte, keinen anderen Zu- oder Ausgang. Ich wollte so weit hinunter, wie ich konnte, ohne gesehen zu werden, hockte mich in den Zugang und ließ mich Stück für Stück auf dem Hosenboden die Schräge hinunterrutschen (der Boden war so kalt wie der arktische Winter).
10
»… famine sits enthroned, and waves his scepter over a dominion expressly made for him …«, zitiert aus