Calyxa nahm die Einladung gelassen auf. »Ich brauche nicht zu proben. Zeigen Sie mir einfach, wo mein Platz ist.«
»Dann singen Sie den Part?«
»Ja. Besser ich als irgendeine Chorsängerin.«
»Aber das ist ja wunderbar! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!«
»Müssen Sie nicht. Adam, was dagegen, wenn ich die Emma singe?«
»Nein — aber bist du sicher, dass es klappt?«
»Das sind meine Lieder, und ich singe sie bestimmt nicht schlechter als diese Broadway-Walküren. Besser, vermutlich.«
In der Planungsphase war ihr der Part von Emma angetragen worden, aber sie hatte sich (ungern, wie ich weiß) geweigert, weil sie sich ganz unserer Flaxie hatte widmen wollen. Diese gänzlich unerwartete Gelegenheit heute Abend gefiel ihr offensichtlich. Und Lampenfieber kannte meine Calyxa nicht.
Ich wünschte ihr viel Erfolg, und sie eilte davon, um sich vorzubereiten. Der Beginn der Vorstellung, wurde laut verkündet, verschiebe sich um fünfzehn Minuten. Also zog ich meine Kreise im Foyer und lief Sam Godwin über den Weg.
Seine Stirn war bewölkt. »Wo ist deine Frau?«, fragte er.
»Für die Aufführung rekrutiert. Und wo ist deine?«
»Zurück zum Palast.«
»Zurück zum Palast? Warum das denn? Sie verpasst den Film!«
»So ist das nun mal, Adam. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Sie packt für Frankreich«, sagte Sam sehr leise. »Wir reisen noch heute Nacht.«
»Heute Nacht?«
»Nicht so laut! So groß kann der Schock für dich nicht sein. Die Laurentische Armee ist im Anmarsch, der Senat stellt sich offen gegen Julian …«
»Das ist doch nicht erst seit heute Abend so.«
»Und jetzt brennt das ägyptische Viertel. Der größte Teil der Houston Street soll in Flammen stehen, und das Feuer droht den Kanal an der 9ten zu überspringen. Der Wind facht es an, und wenn die Flammen den Hafen erreichen, schneiden sie uns den einzigen Fluchtweg ab, den wir haben.«
»Aber … Sam, ich weiß nicht, ob ich darauf vorbereitet bin.«
»Das bist du, Adam, selbst wenn ihr nur das mitnehmen könnt, was ihr am Leib habt. Die Karten sind gemischt.«
»Aber Flaxie …«
»Emily sorgt dafür, dass Flaxie heil zum Schiff kommt. Die beiden Frauen haben alle Eventualitäten eingeplant. Sie stehen schon seit einer Woche auf dem Sprung. Hör zu! Unser Schiff ist die Goldwing, sie liegt am Fuß der 42sten Straße. Bei Tagesanbruch legt sie ab.«
»Und was ist mit Julian? Weiß er von dem Feuer?«
»Noch nicht. Er hat sich eingekapselt in seiner Loge und mit lauter Gardisten umgeben. Aber ich werde mit ihm reden, noch ehe der Film zu Ende ist, und wenn es blutige Nasen gibt.«
»Ich glaube nicht, dass er sich das Ende des Films entgehen lässt.« Das Gleiche galt für Calyxa, die jetzt unverzichtbarer Bestandteil der Aufführung war.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Sam grimmig.
Eine Glocke bimmelte — das Signal, die Plätze einzunehmen. »Aber sowie der Vorhang fällt«, fuhr Sam hastig fort, »müssen wir sofort hier raus. Wir sehen uns zwischen den Akten, hier im Foyer. Und wenn nicht … oder wenn wir getrennt werden — vergiss nicht! Die Goldwing, in aller Herrgottsfrühe.«
Es war klar, dass mir der Kopf schwirrte, als sich der Vorhang hob; dabei kam (abgesehen von dem Feuer im ägyptischen Viertel) nichts von alledem gänzlich unerwartet, obwohl ich gehofft hatte, nicht so bald fliehen zu müssen. Aber da ich vorerst nirgends gebraucht wurde, konnte ich mich ebenso gut auf Charles Darwin konzentrieren.
Das Orchester spielte eine lebhafte Ouvertüre, eine Kombination aus den wesentlichen musikalischen Themen des Films. Die Erregung des Publikums war augenfällig. Dann gingen die Lichter aus, und eine grandios verzierte Titelei flammte auf:
THE LIFE AND ADVENTURES OF THE GREAT NATURALIST CHARLES DARWIN
(FAMOUS FOR HIS THEORY OF EVOLUTION, ETC.)
Produced by Mr. Julian Comstock and Company
with the assistance of the
New York Stage and Screen Alliance
Featuring Julinda Pique as Emma Wedgwood
and introducing Magnus Stepney in the Title Role
Die Schrift verblasste und machte dem schlichter gehaltenen Hinweis Platz:
OXFORD
IN THE COUNTRY OF ENGLAND
Long before the Fall of the Cities
Damit war der Schauplatz geklärt. Der junge Darwin spazierte durch die Landschaft von Oxford, die in Wahrheit das Jagdrevier des Palastgeländes war, bestückt mit Schildern wie FORTY MILES TO LONDON und WATCH OUT FOR FOX HUNTS und dergleichen, um einen allgemeinen Eindruck von England zu vermitteln.
Ich hatte bis jetzt noch keinen Filmmeter gesehen und gewisse Zweifel gehabt, was Pastor Stepneys schauspielerische Qualitäten betraf. Doch er verkörperte, ein bisschen zu meiner Überraschung, einen achtbaren Darwin. Vielleicht ist die Kanzel der richtige Exerzierplatz für Schauspieler. Wie dem auch sei, er gab einen stattlichen Naturforscher ab; und die berühmte Julinda Pique, obwohl fast doppelt so alt wie er, stellte eine angemessen attraktive Emma dar, wobei jedwede äußerliche Unvollkommenheit weggeschminkt war.
Ich habe die Geschichte bereits umrissen und will mich hier nicht wiederholen; nur ein paar Höhepunkte seien erwähnt: Der erste Akt hielt das Publikum unbarmherzig im Griff. Darwin sang seine Arie über die Ähnlichkeit zwischen Insekten verschiedener Arten, synchronisiert durch einen kraftvollen Tenor. Das Oxford Bug Collecting Tournament wurde gezeigt, Emma frohlockte am Bildrand. Für mich bestand nicht der geringste Zweifeclass="underline" Während Julinda Pique auf der Leinwand agierte, stammte die Stimme, die ihr anscheinend über die Lippen kam, von Calyxa in ihrer verhangenen Kabine. Ich hatte befürchtet, Calyxa könne sich durch ihre Unerfahrenheit verraten, doch schon der allererste Refrain[116] klang erfrischend und kühn; ein beifälliges Raunen lief durch die Reihen.
Natürlich neigte das Publikum, das sich hauptsächlich aus Apostaten und radikalen Querdenkern zusammensetzte, zu Beifallsbekundungen; ich fand es trotzdem schockierend, Häresien so offen proklamiert zu hören. Als der schändliche Wilberforce sang Only God can make a beetle, wiederholte er exakt, was ich in der Dominion-Schule gelernt hatte; und Darwins Retourkutsche (I see the world always changing / unforced, unfixed, and rearranging) hätte mir eine Strafpredigt oder Schlimmeres eingebracht, wenn ich sie Ben Kreel (zumal gereimt) dargeboten hätte. Aber hatte Darwin nicht Recht? Ich hatte so viel von dieser unfertigen Welt gesehen, dass ich mich beim Nicken ertappte.
Das Insekten-Turnier endete mit Sieg und Kuss für Charles Darwin. Darwins Schwur, die Welt auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens zu bereisen und der Racheschwur des eifersüchtigen Wilberforce waren Gegenstand eines mitreißenden Duetts, das den Vorhang für den ersten Akt in einen frenetischen Applaus fallen ließ.
In dieser Nacht blies ein trockener, steifer Wind aus dem Norden und fachte die Flammen im ägyptischen Viertel an. Draußen vor dem Theater priesen Zeitungsjungen eine Spätausgabe des Spark an. BIG BLAZE HITS GYPTOWN war die vulgäre, aber zutreffende Schlagzeile.[117]
Das war eine bestürzende Nachricht, denn ein unkontrolliertes Feuer in einer modernen Stadt kann rasch zu einer allgemeinen Katastrophe werden, doch das Lichtspieltheater war weit entfernt von den Flammen, und im dicht bevölkerten Foyer gab es nur vereinzelte aufgeregte Unterhaltungen, von Panik keine Spur.
116
(Wer hätte gedacht, dass ich mich ausgerechnet in einen Gelehrten verliebe; die lesen furchtbar viel und geben selten einen Dollar aus …)