Ich hielt Ausschau nach Sam und sah ihn die Treppe von einer der Emporen herunterkommen.
»Zum Teufel mit Julian!«, sagte er, als ich neben ihm war. »Er macht niemandem auf, auch mir nicht — hockt da drinnen mit Magnus Stepney und bewaffneten Gardisten vor den Türen — keine Ausnahmen!«
»Ich glaube, er ist nervös. Wie sein Film ankommt, mehr interessiert ihn jetzt nicht.«
»Ich glaube, er ist halb übergeschnappt — so weit lässt man es nicht kommen —, aber das ist keine Entschuldigung!«
»Am Ende muss er ja rauskommen. Vielleicht kannst du gleich nach dem letzten Akt mit ihm reden.«
»Ich werde vorher mit ihm reden, und wenn ich die Waffe ziehen muss! Hör zu, Adam: Die Gardisten, die ich mit Emily zum Palast geschickt habe, melden mir, dass sie zwei Fuhrwerke bereitstehen hatte und zusammen mit Flaxie, Betreuerinnen, Dienstpersonal und einem Trupp ausgeruhter Gardisten zum Hafen unterwegs sei. Keine Zwischenfälle, alles sei reibungslos verlaufen.«
Die Vorstellung, dass Flaxie in dieser brenzligen Nacht elternlos durch die Straßen von Manhattan geisterte, gefiel mir ganz und gar nicht; doch ich wusste, dass Julians Mutter unser Baby liebte, als wäre es ihr eigenes, und jede erdenkliche Vorsicht walten ließ. »Und passieren kann ihnen nichts?«
»Keine Sorge. Wahrscheinlich sind sie schon an Bord der Goldwing. Aber im Palast ist der Teufel los — das ist die Kehrseite der Medaille. Das Dienstpersonal und die Gardetruppen haben sie mit Sack und Pack wegfahren sehen und machen sich ihren Reim darauf. Lymon Pugh tut sein Bestes, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und Plünderungen zu verhindern. Aber es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten, dass Julian der Eroberer abgedankt hat — und das hat er, ob er es schon weiß oder nicht —, und das Palastgelände ist ein gefundenes Fressen für Chaoten und marodierende Soldaten.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, die Bluthunde sind uns auf den Fersen, und dieser verdammte Film ist hoffentlich bald zu Ende!«
Und damit bimmelte es zum zweiten Akt.
Der zweite Akt erzählte von Darwins Seereisen, stand also in krassem Gegensatz zur ländlichen Idylle des ersten Aktes. (Und passte somit zu dem stürmischen Seegang in meinem Innern.)
Da war die Beagle (in Wahrheit ein alter angemieteter Schoner draußen vor Long Island) unterwegs nach Südamerika mit ihrer Mannschaft aus verwegenen Seeleuten. Daheim in England war Emma Wedgwood, die sich dem Werben des wohlhabenden und zunehmend verbitterten Wilberforce verweigerte. Und hier war Wilberforce in einer Hafenkneipe und schob dem betrunkenen Kapitän eines Piratenschiffs ein Bündel Geld über den Tisch, damit dieser die Beagle verfolgte und auf den Grund des Meeres schickte.
Da war auch Südamerika mit seiner sonderbaren tropischen Schönheit. Da war Darwin, der Meeresmuscheln von den Klippen pflückte und Knochen ausgestorbener Säugetiere aus dem uralten Mergel zog und die ganze Zeit eine Meditation über das Alter der Erde sang und vor äußerst angriffslustigen Gürteltieren floh. Dann war Darwin auf den Galapagosinseln und sammelte Spottdrosseln und bot einem wilden Löwen die Stirn (in Wirklichkeit eine mit Läufer und Perücke ausstaffierte Dogge, die aber durchaus überzeugend wirkte). Der Dschungel (zum größten Teil aus Papier) erstreckte sich bis an die fernen Berge (gemalt), und eine Giraffe tauchte flüchtig auf.[118]
Auf der Rückreise nach England stieß die Beagle auf die von Wilberforce gedungenen Seeräuber. Sie wurde geentert, und der Kampf an Deck wirkte sehr realistisch. Als Seeräuber hatte Julian einen Trupp Männer aus den New Yorker Hafenkneipen rekrutiert, die ihre Aufgabe vielleicht etwas zu gut angingen. Wir hatten ihnen gezeigt, wie man zuschlug und ein Schwert führte, ohne jemanden umzubringen; doch die Ausführung war häufig schlampig oder übereifrig, so dass etwas von dem Blut, das vergossen wurde, echter war, als den Berufsschauspielern lieb gewesen war.
Darwin erwies sich, was man von einem Naturforscher nicht erwartet hätte, als geschickter Schwertkämpfer. Mit einem Satz war er auf der Ankerwinde und verteidigte das Vordeck gegen Dutzende von Piraten, wobei er sang:
Eine so gute Kampfszene war (meines Wissens) noch nie gedreht worden. Die anwesenden Ästheten und Apostaten waren nicht so leicht zu beeindrucken, aber sie brachen in Bravorufe aus und johlten triumphierend, als Darwin den Piratenkapitän mit seinem Schwert durchbohrte.
Die Beagle erreichte London, lädiert, aber fahrtüchtig — beobachtet von Emma am Ufer und von Wilberforce aus dem Schatten heraus — Wilberforce, jetzt Bischof, sang mit grimmiger Miene eine Reprise seiner mörderischen Absichten.
In Erwartung des dritten und letzten Aktes schlenderte ich durch die Menschenmenge im Foyer auf die großen Glastüren zu. Ich konnte sehen, dass der Wind an Stärke zugenommen hatte, denn er zerrte an den Markisen und Bannern längs des Broadways, und die Droschkenfahrer am Trottoir drängten sich zusammen und klammerten sich an ihre Pfeifen. Ein zweispänniges Löschfahrzeug lärmte mit bimmelnden Messingglocken vorüber, zweifellos unterwegs zum Einwandererviertel.
Es herrschte ein aufgeregtes Kommen und Gehen von Kurieren in Gardeuniform — sie schoben das Aufsichtspersonal beiseite und eilten die Treppe zu Julians Hochbalkon hinauf und hinab. Sam tauchte allerdings nicht auf, und so kehrte ich, ohne auf dem Laufenden zu sein, in den Saal zurück, um mir den dritten Akt anzusehen.
Während dieses letzten Aktes, als Darwin und Bischof Wilberforce sich im Zuge ihrer großen Debatte andauernd ansangen, kam mir die ganze Tragweite dieses Abends zu Bewusstsein. Selbst als das Publikum seine Anteilnahme durch lautes Bravo für Darwin und ebenso laute Buhrufe für Wilberforce bekundete (die Pfiffe waren manchmal verwirrend), lag mir die Tatsache, dass ich heute noch mein Vaterland verlassen sollte, schwer auf der Seele.
Ich hielt mich für einen Patrioten oder wenigstens für so patriotisch, wie es die meisten Amerikaner waren. Was nicht hieß, dass ich den Rücken vor irgendeinem Individuum beugen würde, das zufällig Präsident war, aber auch nicht vor einem Senat, ja nicht einmal vor dem Dominion. Ich hatte zu viele Schwächen und Borniertheiten solcher Leute und Institutionen erlebt. Aber das Land — das Land liebte ich, sogar Labrador (soweit ich es kannte und ein klein wenig reservierter vielleicht); und ganz bestimmt New York City; aber über alles den Westen mit seinem zerklüfteten Ödland, der offenen Prärie, den saftig grünen Vorgebirgen und purpurrot gefärbten Bergen. Der nördliche Westen war nicht reich oder besonders dicht besiedelt, aber seine Menschen waren höflich und nett und …
Nein, so meine ich das nicht. Die Menschen im Westen sind nicht bescheidener oder besser als andere. Es gibt durchaus Gauner und Schläger unter ihnen; obwohl es in Manhattan bestimmt mehr davon gibt. Nein, ich will sagen, dass ich im Westen aufgewachsen bin und gelernt habe, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Von seiner Weite habe ich unsere »Größe« gelernt; von seinen Sommernachmittagen Kunst und Wissenschaft des Ruhens; von seinen Winterabenden den bittersüßen Geschmack der Melancholie. Jeder Mensch lernt diese Dinge auf die eine oder andere Weise; aber ich habe sie vom Westen gelernt, und ich bin ihm auf meine Weise treu geblieben.
118
In Südamerika gab es zwar so gut wie keine Giraffen; doch was man hat, das soll man nutzen.
119
Hier erleben wir en miniature die Kraft, die alle Lebewesen formt. Ich töte einen Piraten — nämlich diesen hier — und vernichte damit alle seine Nachkommen und deren Nachkommen und so fort, gerade so wie der Vogel mit dem langen Schnabel länger lebt als die Hunger leidende Schwalbe mit dem kurzen. — Manch frommer Mensch findet diese Wahrheit abwegig und bitter: Doch Natur, Zufall und Zeit garantieren das Überleben der »Fittesten«.