Lymon Pugh hielt die Zügel. »Wohin soll’s denn gehen, Adam Hazzard?«
Ein paar Planwagen und Kutschen überholten uns, als wir den Broadway hinauftrabten, alle kehrten dem brennenden Einwandererviertel den Rücken. Eine steife Brise blies die verwaisten Gehsteige hinunter, trug lose Seiten der Sonderausgabe des Spark in die Luft und störte die Bettler, die in den finstren Gassen schliefen.
Sams Abschiedsworte hatten mich gerührt, und ich muss zugeben, auch Julians Brief hatte meine Gefühle in Aufruhr versetzt. Ich ging davon aus, dass er seine Gründe hatte hierzubleiben. Oder wenigstens glaubte, welche zu haben. Aber es tat schon weh, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, mir Lebewohl zu sagen. Wir hatten so viel zusammen durchgestanden, dass ich angenommen hatte, ihm wenigstens einen Händedruck wert zu sein.
Doch Julian war in letzter Zeit nicht Julian gewesen, ich hatte ihn manchmal nicht wiedererkannt …
»Er hatte es bestimmt sehr eilig«, meinte Lymon Pugh, als könne er Gedanken lesen.
»Du hast den Brief gelesen?«
»Ich habe ihn Sam gebracht.«
»Was machte Julian für einen Eindruck, als er dir den Brief gab?«
»Gar keinen. Ich bekam den Brief hinten durch den Vorhang der Loge gereicht. Ich habe nur eine behandschuhte Hand gesehen und seine Stimme gehört: ›Sorge dafür, dass Sam Godwin diesen Brief bekommt.‹ Na ja, dafür habe ich gesorgt. Sollte ich ihn unterwegs geöffnet und rasch gelesen haben, dann ist das zweifellos deine Schuld, Adam Hazzard.«
»Meine Schuld?«
»Wer hat mir denn das Lesen beigebracht?«
Wer weiß, vielleicht hatten die Eupatriden Recht, dass sie die Fertigkeit des Lesens nicht allzu verbreitet wissen wollten. Ich überging geflissentlich seine Schuldzuweisung. »Was hältst du davon?«
»Keine Ahnung. Alles Dinge, die unsereins nicht mitbekommt.«
»Aber du sagst doch, er hätte es bestimmt eilig gehabt.«
»Vielleicht wegen Diakon Hollingshead.«
»Was ist mit dem Diakon?«
»In der Garde geht das Gerücht, Hollingshead hätte einen persönlichen Hass auf Julian und würde in der ganzen Stadt Jagd auf ihn machen, mit einem Trupp ekklesiastischer Polizisten.«
»Ich weiß, dass die beiden Gegner sind, aber was verstehst du unter einem persönlichen Hass?«
»Na ja, wegen seiner Tochter.«
»Der Tochter des Diakons? Die bekanntermaßen mit anderen Frauen Geschlechtsverkehr hat?«
»Das ist mehr, als ich bis eben wusste, aber ja. Das Mädel brachte ihn ständig in Verlegenheit, und damit sie keine Dummheiten macht, hat er sie in seinem schicken Haus in Colorado Springs eingesperrt. Dann rückt die Kalifornische Armee an, und das Haus wird in die Luft gesprengt. Hollingshead war natürlich hier in New York. Aber er macht Julian für ihren Tod verantwortlich und will sich persönlich an ihm rächen. Eine Schlinge oder eine Kugel, das ist ihm egal, Hauptsache, Julian stirbt.«
»Woher weißt du das alles?«
»Nichts für ungut, Adam, aber was in meiner Kaserne die Runde macht, erreicht nicht immer die oberen Gefilde. Julian hat uns alle frisch aus der Laurentischen geholt. Manche haben Freunde in der hiesigen Garnison. Und es wird hin und her geredet.«
»Hast du das Julian erzählt?«
»Nein, ich hatte nie die Gelegenheit; möglich, dass ihm der ehrenwerte Pastor etwas erzählt hat. Stepney hat Kontakte zu politischen Agitatoren, die solche Dinge mit Interesse verfolgen.«
Oder es war alles nur dummes und aufgeblähtes Zeug. Ich musste daran denken, wie damals in Williams Ford ein Schnupfen, der unter den Duncans (oder den Crowleys) grassierte, zur »Roten Plage« wurde, als die Pferdepfleger und Stallburschen davon erzählten. Die Nachricht vom Tod des Mädchens war allerdings schlimm. Das Mädchen hatte mir immer leidgetan, obwohl ich auch nur die entsprechenden Zeilen kannte, die Calyxa auf dem Ball zum Unabhängigkeitstag vor anderthalb Jahren gesungen hatte.
»Gibt es einen besonderen Grund, warum wir zum Palast fahren?«, fragte Lymon Pugh.
»Ein paar Sachen, die ich mitnehmen will.«
»Und dann ab nach Südfrankreich?«
»Du kannst immer noch mitkommen, Lymon — das Angebot steht. Ich weiß nicht, wie momentan deine Aussichten sind. Ich weiß auch nicht, wie du noch an deinen Sold kommen willst.«
»Nein danke. Als Sold nehme ich mir ein Rassepferd aus den Palastställen und reite nach Westen. Das heißt, falls noch Pferde da sind. Die Gardisten mögen Julian, ihren Julian den Eroberer, aber sie wissen so gut wie jeder andere, was die Stunde geschlagen hat. Viele von ihnen sind schon abgezogen. Kann sein, dass inzwischen einiges vom Präsidentensilber fehlt, frag mich nicht.«
Menschen, die ein sinkendes Schiff verlassen, nennen wir Ratten; doch manchmal ist die Ratte die Klügere. Lymon Pugh hatte Recht, was das Plündern betraf, das Plündern und die Gründe dafür. Normalerweise ist die Republikanische Garde eine unparteiische Truppe und übersteht mehr oder weniger unbeschadet die Unruhen eines Regimewechsels, indem sie ihre Loyalität einfach auf den Thronfolger überträgt. Aber Julian hatte die Garde ausgewechselt, und die handverlesene neue Garde ging entweder mit dem gekenterten Schiff unter — oder fand rechtzeitig den Absprung.
Wir kamen zum Gate in der 59sten. Offenbar hatten einige Soldaten der örtlichen Garnison von der Plünderung des Palastes gehört und fühlten sich bemüßigt, daran teilzunehmen, zumal jeden Tag mit ihren Kameraden aus dem Norden zu rechnen war.
Diese Aasgeier hatten sich am Gate versammelt und verlangten Zutritt und feuerten mit ihren Pistolen in die Luft. Es gab allerdings noch genügend Gardisten an der Mauer, um den Mob aufzuhalten; und dieser Mob hatte noch genügend Respekt vor dem Wappen des Präsidenten, um uns durchzulassen, wenn auch unter Murren und beißendem Spott.
Ich bat Lymon Pugh, das Gästehaus anzufahren, in dem ich bis heute Abend gewohnt hatte. In weiser Voraussicht hatte Calyxa bereits vor Tagen gepackt, und das Gepäck musste inzwischen am Kai sein. Lediglich Kleinigkeiten waren noch hier. Dazu gehörte eine Schachtel mit Souvenirs und Andenken, die ich ohne Calyxas Wissen aufgehoben hatte; mit ihr und ein paar anderen Sachen verließ ich das hallende, leere Haus.
Von hier fuhren wir zum Palast. Die Republikanische Garde verhielt sich gerade so paradox, wie Lymon es beschrieben hatte. Manche standen an den üblichen Stellen im Portikus Wache, während andere ungehindert die Marmorstufen hinauf- und wieder hinunterstürmten, beladen mit Besteckkästen, Vasen, Porzellan, Gobelins und allem, was nicht niet- und nagelfest war. Ich machte ihnen aber keinen Vorwurf. Von heute Abend an konnten sie sich praktisch als gefeuert betrachten, mit den allerschlechtesten Aussichten und dem guten Recht, sich auf diese Weise schadlos zu halten.
Hoffentlich hatte niemand mitgenommen, weswegen ich hergekommen war. Ich hatte Glück. Nur wenige (von denen mich ein paar schuldbewusst grüßten) hatten sich in den unterirdischen Bereich des Palastes getraut, der immer noch einen abschreckenden Ruf hatte. Das Studio war unberührt, und das Original von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin war noch da, wo Julian es zurückgelassen hatte — drei tortengroße Blechdosen, in denen sich nicht nur die Filmspulen, sondern auch Texte und Partituren befanden.
Ich zauderte nicht, als ich die Dosen einmal an mich genommen hatte. Wenn es hier unten noch einen Gefangenen gegeben hätte, hätte ich ihn vermutlich freigelassen. Aber es gab hier Gott sei Dank keine Gefangenen mehr. In Julians Amtszeit hatte es hier unten praktisch nur einen Gefangenen gegeben, nämlich den Mann, den er beerbt hatte, seinen Onkel Deklan, und der war zwischenzeitlich geköpft und aufgespießt worden und schmorte seitdem in der Hölle.