»Warum sagen Sie so etwas?«, fragte er. »Sind Sie völlig übergeschnappt?«
»Die Geschichte von Ihrer Tochter hat weite Kreise gezogen …«
»Dank der vulgären Verse, die das vulgäre Weib Ihres Freundes zum Besten gegeben hat, auf dem Ball Ihres Onkels …«
»Und ich gebe zu, dass ich hellhörig wurde. Ich habe die Situation Ihrer Tochter eingehend recherchiert. Noch vor dem Angriff auf Colorado Springs habe ich ihr zwei meiner Gardisten geschickt.«
»Wozu?«
»Meine Männer haben sie über die bevorstehende Intervention unterrichtet und ihr Mittel und Wege zur Flucht angeboten.«
Hollingshead trat einen Schritt vor. »Lügen, nichts als Lügen; aber ich beschwöre Sie, Julian Comstock, wenn Sie meine Tochter als Geisel genommen haben, dann sagen Sie mir jetzt, wo sie ist — reden Sie, und Sie bekommen eine Schonfrist.«
»Ich habe Ihre Tochter nicht als Geisel genommen. Ich sagte, man hat ihr Mittel und Wege zur Flucht angeboten. Damit meine ich den Umzug in eine andere Stadt — weit weg vom Zentrum des Dominions und weit weg von Ihnen, Diakon Hollingshead —, wo sie unter einem anderen Namen leben und sich nach Herzenslust verlieben kann.«
»Ungehindert sündigen kann, meinen Sie! Wenn das stimmt, hätten Sie sie ebenso gut umbringen können! Sie haben ihre unsterbliche Seele getötet, was auf dasselbe hinausläuft!«
»Für Sie vielleicht. Die junge Lady sieht das anders.«
Das brachte den Diakon noch mehr in Rage. Er machte einen drohenden Schritt auf die beiden zu, ich holte zwei Schritte auf. Inzwischen hatten Julian und Magnus mich entdeckt, ließen sich aber nichts anmerken.
»Sie kommen sich wohl wie ein Sieger vor«, sagte der Diakon. »Präsident Comstock! Julian der Eroberer! Dass ich nicht lache. Wo ist denn Julian der Eroberer? Er verkriecht sich in einer abtrünnigen Kirche, die Präsidentschaft in Trümmern und die brennende Stadt im Rücken!«
»Was ich für Ihre Tochter getan habe, habe ich ihr zuliebe getan, nicht um zu gewinnen. Sie haben Ihre Tochter so verprügelt, dass sie Narben davongetragen hat. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre sie keine dreißig geworden, nicht unter Ihrer Knute.«
Ich fragte mich, ob Julian es darauf anlegte, dass der Mann ihn erschoss. Ich trat noch einen Schritt vor.
»Über kurz oder lang werde ich sie zurückhaben«, sagte der Diakon.
»Da wäre ich nicht so sicher. Wir haben sie sehr sorgfältig versteckt. Sie wird ihren Vater für den Rest ihres Lebens verfluchen. Sie hat ihn schon mehr als einmal verflucht.«
»Allein dafür sollte ich Sie töten.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an — es macht keinen Unterschied.«
»Und ob es einen Unterschied macht. Sie sind ein Versager, Julian Comstock, Sie haben als Präsident versagt, Sie haben als Rebell gegen das Dominion versagt.«
»Das Dominion wird noch eine Weile weitertorkeln. Aber es ist auf lange Sicht zum Untergang verdammt. Solche Institutionen sind nicht von Dauer. Betrachten Sie die Geschichte der Menschheit. Es hat so viele Dominions gegeben. Sie sind allesamt untergegangen oder haben sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.«
»Die Weltgeschichte steht in der Heiligen Schrift, und sie gipfelt im Reich Gottes.«
»Die Weltgeschichte ist in Sand geschrieben, und sie entwickelt sich, wie der Wind bläst.«
»Sagen Sie mir, wo meine Tochter ist.«
»Nein.«
»In dem Fall töte ich zuerst Ihren homosexuellen Freund und dann …«
Was er noch sagen wollte, wurde im Keim erstickt. Ich hatte aus der Tasche gezogen, was Lymon mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Einen Knocker natürlich. Lymon hatte die Herstellung laufend verbessert und mir eines seiner besten Exemplare überreicht. Das Hanfsäckchen war niedlich mit Perlen bestickt, und die Gussform des Bleikerns hätte gut und gerne ein Straußenei sein können. Ich tat einen Satz nach vorne und benutzte meine Waffe, um dem Diakon die seine aus der Hand zu schlagen. Ein Schuss löste sich, aber die Kugel fuhr in den Holzboden. Hollingshead wirbelte herum, die verletzte Hand mit der anderen haltend, und stierte erst mich und dann den Knocker entgeistert an.
»Was ist das?«, wollte er wissen. (Mich hatte er wohl schon erkannt.)
»Ein sogenannter Knocker«, sagte ich und demonstrierte ihm auch gleich die Wirkungsweise, woraufhin er bewusstlos zu Boden sackte.
In dem Moment kam Lymon Pugh herein. »Ich hatte ein kleines Problem«, begann er, »aber ich habe sie alle weggeputzt, einen nach dem anderen — und dann habe ich hier oben einen Schuss gehört — he, ist das nicht der Diakon? Sieht aus, als hätte er schlappgemacht.«
»Du bewachst den Haupteingang, Lymon«, sagte ich, denn ich wollte mit Julian unter vier Augen reden. Lymon verstand den Wink und machte kehrt.
Julian stand nicht auf oder veränderte sonst wie seine Haltung. Er saß gegen Magnus Stepney gelehnt und Magnus Stepney gegen ihn, und sie erinnerten an zwei Stoffpuppen, die ein Kind achtlos beiseitegelegt hatte. Ich ging um den besinnungslosen Diakon herum.
»Nicht zu nahe«, sagte Julian.
Ich zögerte. »Wie meinst du das?«
Magnus Stepney antwortete für Julian: »Ich hätte dich fast nicht erkannt, Adam Hazzard. Aber du setzt die Maske besser wieder auf.«
»Wegen des Rauchs?«
»Nein.«
Magnus langte nach der Laterne, die an seinen Füßen stand. Er zündete sie mit einem Streichholz an und hielt sie hoch, so dass ihr Licht auf ihn und Julian fiel.
Ich begriff sofort, hielt den Atem an und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Julian war blass, seine Augen waren halb geschlossen, und auf beiden Wangen blühten Fieberflecken. Aber das war nicht das entscheidende Symptom. Das entscheidende Symptom waren die vielen blassgelben Pusteln, die aus dem Kragen kletterten und die Arme hinunterschwärmten. (Sie erinnerten entfernt an Schneeglöckchen in einem Wintergarten.)
»Oh, oh«, machte ich.
»Die Pocken«, sagte Julian. »Ich wollte es erst nicht wahrhaben, aber heute sind sie ausgebrochen. Deshalb habe ich mich so abgekapselt, deshalb bin ich wortlos auf und davon. Und deshalb kann ich auch nicht mit euch kommen, falls du mich das fragen willst. Ich könnte die Crew der Goldwing anstecken, die Passagiere — könnte die Hälfte der Menschen töten, die ich liebe. Und wäre wahrscheinlich der Erste, der sterben müsste.«
»Deshalb bist du hier.«
»Hier stirbt es sich so gut wie überall.«
»Die Flammen sind schneller als die Pocken.«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Und du, Magnus?«, fragte ich. »Du sitzt direkt neben ihm — hast du keine Angst, dich anzustecken?«
»Danke der Nachfrage«, sagte er, »aber das hat sich wohl erledigt. Ich bleibe so lange bei ihm, wie ich noch bei Kräften bin.«
Diese Worte sprachen ihn heilig. Julian nahm seine Hand, streckte sich stöhnend auf die Bank und legte den Kopf in den Schoß seines Freundes.
Ich hatte immer gehofft, Julian würde eine Frau finden, die ihn liebte und ihn in die Freuden des Lebens einweihte, die für mich so selbstverständlich waren und ihm versagt blieben. Das war nicht eingetreten; doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ihm jetzt wenigstens sein Freund Magnus zur Seite stand. Er hatte zwar keine Frau, die ihm Trost spenden oder das Sterbebett richten konnte — aber er hatte Magnus, und vielleicht war das in Julians Augen genauso viel wert.
»Ich habe den Schlussvorhang verpasst«, sagte Julian so versonnen, als schweife sein Geist schon ab. »Gab es Applaus?«
»Applaus und Bravorufe, ohne Ende.«
Es war schwer zu sagen bei der Düsternis, aber ich glaube, er lächelte.