Kein Wunder, dass er sich unter Christen zurechtfand. »Aber der Ritus, den Sie praktiziert haben …«
»Mehr Judentum habe ich nicht, Adam. Ein paar schlecht erinnerte Gebete zu bestimmten Gelegenheiten. Beim Militär habe ich eine Reihe Juden kennengelernt und konnte meine Kenntnisse über die religiösen Riten und Grundsätze ein wenig auffrischen. Aber ich kann nicht behaupten, ein frommer Jude zu sein.«
»Warum entzünden Sie dann die Kerzen und sprechen die Gebete?«
»Zu Ehren meiner Eltern und ihrer Eltern und so weiter.«
»Reicht das, um Jude zu sein?«
»In meinem Fall, ja. Das Dominion würde mir sicher zustimmen.«
»Aber Sie verstellen sich richtig gut«, sagte ich und meinte das als Kompliment.
»Danke«, sagte er ein bisschen säuerlich und fügte hinzu: »Wir alle drei werden uns verstellen müssen, und das richtig gut und sehr bald schon. Mein Ziel ist ein Zug Richtung Osten. Aber wir können nicht unter seriösen Leuten reisen — Leuten, bei denen sich die Nachricht von Julians Verschwinden schon herumgesprochen hat. Wir müssen uns als Leute ohne Land ausgeben. Besonders du, Julian, wirst deine Manieren und deinen Wortschatz unterdrücken, und du, Adam«, und hier sah er mich schräg an und so todernst, dass ich schlucken musste, »du musst dir etwas von dem vornehmen Getue der Pächterklasse abschminken.«
Ich erklärte ihm, ich hätte durch die Aufgaben meines Vaters in der Church of Signs viele abhängige Arbeiter und Wanderarbeiter erlebt. Ich wüsste, was für Ausdrücke sie im Mund führten, und wie man spuckte, wenn es nötig war, und wie man fluchte, obwohl ich das nicht mochte.
»Selbst dann«, erklärte mir Sam, »die Männer und Frauen, die dem Glauben deines Vaters folgen, haben sich bereits durch den inneren Drang, einer Kirche anzugehören, von den gemeinsten der Gemeinen abgehoben. In ein paar Tagen werden wir von Dieben, Flüchtlingen, Ehebrechern und Schlimmerem umgeben sein, und nicht einer schert sich um Reue. Es ist kein Problem, euch wie Niedriggeborene aussehen zu lassen, aber die Rolle zu spielen und zu sprechen bedarf einiger Übung. Haltet also möglichst den Mund — das gilt für euch beide.«
Als wolle er uns auf die Probe stellen, verfiel er in brütendes Schweigen.
Wir waren sowieso zu erschöpft, um noch viele Worte zu machen; und trotz der rauen Umstände, obwohl der Wind so laut klagte und die alte Armeedecke so dünn war, die Sam mir gegeben hatte, und ungeachtet dessen, was vor uns lag, fiel ich bald in Schlaf.
Am Morgen bekamen Julian und ich den Auftrag, aus sicherer Entfernung die Ost-West-Straße zu erkunden und militärische Aktivitäten unverzüglich zu melden.
Unsere Pferde hätten Verdacht erregt und so ließen wir sie zurück und pilgerten zum Rand der Hauptstraße, wo wir uns hinter Schneeverwehungen versteckten und warteten. Was wir an Kleidung dabeihatten, hatten wir übereinander angezogen, überhaupt hatten wir alle Vorkehrungen gegen Kälte getroffen, die wir von Sam gelernt und den Militärromanzen eines Mr. Charles Curtis Easton entnommen hatten. Aber nichts davon half wirklich, so dass wir einen Großteil des Nachmittags damit verbrachten, in die Hände zu pusten und mit den Füßen zu stampfen. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Wind war eingeschlafen, doch die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt, was dazu führte, dass ein gespenstischer Nebel aus der Landschaft stieg, der mir gründlich aufs Gemüt schlug (ich weiß nicht, wie es Julian oder Sam erging).
Am späten Nachmittag hörten wir Kavallerie durch den Nebel kommen. Rasch gingen wir in Deckung. Durch eine Scharte im aufgehäuften Schnee zählte ich fünf Reiter der Athabaska-Reserve. Die üblichen Provinz-Soldaten, die da die Straße herunterkamen, mit Ausnahme des Anführers — ein Veteran mit langem Haar und eiserner Miene. Seine Uniform war in tadellosem Zustand, aber er ritt in einer seltsamen Haltung. Weil ihm, wie ich sah, das rechte Bein fehlte, hatte er sich mit einer speziellen Gurtführung in den Sattel geschnallt. Ein Reservist der besonderen Art — dessen Körper durch den Krieg verstümmelt, aber dessen professioneller Instinkt völlig intakt war.
Als er mit uns auf gleicher Höhe war, zügelte er sein Pferd und drehte den Kopf mal hierhin, mal dorthin, als nehme er Witterung auf. Julian rührte sich nicht, während ich am liebsten Hals über Kopf davongerannt wäre. Ich konnte kaum atmen, und mein Herz raste wie die Maus im Opferstock, und die Stille wurde nur durchbrochen vom Schnauben der Pferde und dem Knarren der Ledersättel.
Dann räusperte sich einer der Reservisten, und ein anderer machte eine witzige Bemerkung, die einen dritten zum Lachen brachte; und der Einbeinige stöhnte und spornte sein Pferd an, und die Kavalleristen ritten weiter.
Wir liefen zu Sam und machten Meldung.
Als ehemaliger Soldat der Kalifornischen Armee war Sam gern in Gesellschaft anderer Soldaten und hatte auf ihren Besuchen in Williams Ford und seinen Reisen nach Connaught mehrere Reservisten kennengelernt. Als Julian den Anführer beschrieb, schüttelte Sam bestürzt den Kopf. »Das muss der Einbeinige Willy Bass sein«, sagte er. »Ein ausgezeichneter Spurenleser. Aber du bist noch nicht fertig, Julian. Weiter, bitte.«
Ich wusste nicht, was er meinte. Julian hatte, wie ich fand, das Kavallerie-Kommando bis ins Detail beschrieben, und ich konnte mir nicht vorstellen, was er ausgelassen hatte (bis auf die Marke der Wichse, mit der Mr. Willy Bass seinen Sattelknauf poliert hatte). Auch Julian schien ratlos, bis ihm das kritische Detail einfiel. Er lächelte.
»Westen«, sagte er.
»Im ganzen Satz bitte, Julian.«
»Die Abteilung kam aus dem Osten und bewegte sich nach Westen.«
»Siehst du. Und was schließen wir daraus?«
»Na ja … wenn sie aus Williams Ford kommen, sind sie jetzt vermutlich auf dem Heimweg.«
»Richtig. Ich glaube aber nicht, dass der Einbeinige Willy mit uns fertig ist, dazu kenne ich ihn zu gut. Es ist die Hartnäckigkeit, die einen guten Fährtenleser ausmacht — der Rest ist Handwerk. Aber wenn er uns im Osten gesucht hat und wieder umkehrt, hat er vielleicht unsere Fährte verloren. Jetzt, denke ich, ist die beste Gelegenheit, uns auf den Weg zu machen.«
Ich erlaubte mir die Frage, wo wir denn genau hinwollten. Sam sagte: »Eine Bekohlungsstation namens Bad Jump. Das Nest hat einen üblen Ruf, und die Geschäfte, die dort abgewickelt werden, sind nicht koscher. Aber das kann uns nur recht sein.«
Bad Jump mochte ja unser Traumziel sein, aber in erreichbarer Nähe lag es nicht. Wir mussten den ganzen Tag und die ganze Nacht durchreiten ohne nennenswerte Rast. Das war hart für uns und noch härter für die Pferde. Doch die Tiere seien nicht unsere Hauptsorge, meinte Sam; in Bad Jump müssten wir sie sowieso verkaufen (oder sonst wie loswerden). Inzwischen hatte ich Rapture aber fast liebgewonnen; er hatte nicht ein einziges Mal nach mir getreten, und es gefiel mir überhaupt nicht, ihn aufzugeben. Es gab aber kein vernünftiges Argument gegen Sams Logik, denn Pferde in einem Zug, das war eine sperrige Angelegenheit. Und außerdem stand den Tieren (eigentlich nur denen von Sam und Julian) die edle Herkunft auf die Stirn geschrieben.
Wir ritten drei Tage und kampierten drei Nächte (Letzteres ist maßlos übertrieben). Ende Dezember war es rau und kalt, und ich konnte vor Zittern kaum schlafen, selbst nicht in den genialen Zufluchtsorten, die Sam für uns aufgetan hatte. Weil die Nächte so klar waren, war ein Feuer weithin zu sehen, und Sam löschte sie gleich wieder. Er hatte großen Respekt vor den Fähigkeiten des Einbeinigen Willy Bass und durchforschte auffallend oft den Horizont in unserem Rücken, und seine Nervosität spornte uns an, auch das Letzte aus uns herauszuholen.