»Adam, du bist aus der Finsternis mitten in die Geschichte unseres Landes gestürzt«, sagte Julian mit überraschend wenig Zynismus.
Der Gedanke war beängstigend, aber auch aufregend, und ich hing ihm nach, bis mich die Müdigkeit übermannte.
Ich will nicht jede triviale Einzelheit des Lagerlebens beschreiben und die Schilderung der Kämpfe und Konflikte, an denen Julian und ich beteiligt waren, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Jedenfalls blieben wir nicht lange in diesem barbarischen Lager mitten in der winterlichen Prärie. Praktisch nur, bis wir die Grundausbildung intus hatten und Männer mit verstecktem Risiko aufgefallen waren: Epileptiker, Pocken-Asthmatiker, Tobsüchtige und Depressive. Bis Ostern sollten sie ausgemustert sein oder harmlosen Verrichtungen zugeführt werden.
Alle Übrigen waren natürlich neugierig auf das, was sie erwartete. Manche von den ehemals Abhängigen verschwendeten keinen Gedanken an Sinn und Zweck dieses Krieges, und diese Unkenntnis machte sie furchtsamer als die besser Informierten. In den großen Städten gab es Zeitungen, die über Verlauf und Ausgang der einen oder anderen Schlacht berichteten und den gesamten Kriegsverlauf skizzierten, so dass selbst die kaufmännischen Angestellten und Lohnarbeiter leidlich Bescheid wussten; doch die allermeisten Rekruten waren landlos und konnten weder lesen noch schreiben. Sie bezogen ihre Informationen aus dem sonntäglichen Lager-Gottesdienst, aus Gerüchten und vom Hörensagen. Und einige fragten Julian, wenn sie etwas wissen wollten.
Dass nun keiner denkt, unsere Zeit im Ausbildungslager sei eine einzige Kette aus historischen und philosophischen Debatten gewesen — weit gefehlt. Der Tag begann in aller Herrgottsfrühe: Wecksignal, Anwesenheitsappell, Krankmeldungen, Kantinensignal gefolgt von Korporalschaftsdrill und Kompaniedrill (nachdem wir Korporalschaften und Kompanien zugewiesen waren), Wachdienst, Polizeiarbeit (das hieß Abfälle aufpicken), Bataillonsdrill bis Mittag, wieder Kantinensignal, Regimentsdrill bis zur Fünf-Uhr-Mahlzeit, Generalparade, Zapfenstreich und Lichtaussignal — an sechs von sieben Tagen. Sonntags gab es keinen Drill und nichts Formelleres als einen morgendlichen Lager-Gottesdienst, der zu erbaulicher Ruhe und Gesprächen einlud.
Wir lernten das Präsentieren von Waffen und die Kompliziertheiten einer Parade, und wir wurden mit den Pittsburgh-Gewehren bekanntgemacht, die uns in die Schlacht begleiten sollten. Wir lernten unsere Waffen zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, sie sauber, trocken und geölt zu halten und sie in der Regel mit derselben Sorgfalt und Liebe zu behandeln, die eine Mutter auf ihren erstgeborenen Säugling verwendet. Als der Winter an Schärfe verlor und der Februar zur Neige ging, bekamen wir Märsche über die feuchte Prärie verordnet, auf denen uns die Stiefel zu eng wurden, weil die Füße Blasen warfen; und wir durften Krieg spielen und bekamen gezeigt, wie man Schützengräben aushebt, einen Stacheldrahtverhau überwindet, eine feindliche Schanze angreift und wie man einer Regimentsflagge folgt. Auf dem Schießplatz verbesserten wir unsere Treffsicherheit. Wir lernten Marschkadenzen zu brüllen, ohne rot zu werden bei den obszönen Gesängen — härteten uns ab gegen Moral und körperliche Entbehrung. Kurz, man hat uns hart rangenommen und gut gefüttert, bis wir stolz waren, die ganze Tortur überstanden zu haben, und uns dem durchschnittlichen zivilen Angestellten und Arbeiter haushoch überlegen fühlten. Konnte es sein, dass wir im richtigen Krieg unschlagbar waren, dass uns niemand besiegen konnte und schon gar nicht die Deutschen (wie wir die mitteleuropäischen Streitkräfte nannten)?
Julian und ich hatten es dank Sams Vorarbeit etwas leichter und gehörten zu den geschickteren Rekruten — wiewohl Sam uns zur Vorsicht mahnte. Beim Exerzieren mit Pferden musste besonders Julian eine gewisse Unbeholfenheit vortäuschen, weil man ihn sonst in die Kavallerie gesteckt hätte, wo Sam ihn nicht mehr hätte schützen können. Sam selbst erzielte (absichtlich oder altersbedingt) bei den Übungen, die Ausdauer verlangten, nur mittlere Leistungen, umso unermüdlicher arbeitete er an einer anderen, neuen Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Er machte sich den Quartiermeister zum Freund, der auch ein Veteran des Isthmischen Krieges war. Die Rivalität zwischen Kalifornischer und Laurentischer Armee bedeutete, dass weder Sam noch der Quartiermeister auf irgendeinen Bonus spekulieren durften; und aus Gründen der Anonymität konnte Sam sich lediglich zu einem kurzen »Gastspiel« als Fußsoldat bekennen. Doch die beiden Männer unterstützten sich quasi außerdienstlich und taten einander kollegiale Gefallen; und Sam war bald schon aufgenommen in den kleinen Kreis isthmischer Veteranen, die ihren Weg in die östlichen Streitkräfte gefunden hatten, darunter sogar Offiziere. Sam nutzte seine Beziehungen, um Julian und mich in Reichweite zu behalten und um sicherzustellen, dass wir drei auch dann zusammenblieben, wenn es nach Labrador ging.
Labrador war Gegenstand vieler Sonntagspredigten. Und da der Gottesdienst von Würdenträgern des Dominions abgehalten wurde, war der Konflikt meist in spirituelle Begriffe gekleidet. Das heißt, der Krieg wurde als Schlacht zwischen Gut und Böse dargestellt. Gut war, wenn Nordamerika voll und ganz im Besitz seiner natürlichen Eigner war; und böse waren die »territorialen Ansprüche«, die von diesem gottlosen Commonwealth geltend gemacht wurden, das gemeinhin als Mitteleuropa bezeichnet wird.
Diese Predigten wurden oft mit wahrem Feuereifer vorgetragen, und wir lauschten ihnen mit gebührender Aufmerksamkeit und nahmen sie uns zu Herzen. Doch in den freien Stunden nach dieser religiösen Lagerversammlung scharten sich viele Rekruten (darunter Lymon Pugh und ich) um Julian »Commongold«, der eine eher pragmatische Version der Hintergründe zum Besten gab.
Diese »Vorträge« fanden an mehreren Sonntagen hintereinander statt. Julian ließ uns in Kurzform wissen, dass die politische Zugehörigkeit von Labrador prinzipiell oder aus anderen Gründen schon seit der Falschen Drangsal des vorigen Jahrhunderts umstritten war. Die verbündeten Staaten von Mitteleuropa hatten, während Amerika noch von zivilen Unruhen gebeutelt wurde, die Bedeutung der Nordwestpassage erkannt (die durch die Klimaerwärmung für den Schiffsverkehr passierbar geworden war) und begehrten ihren Reichtum an natürlichen Ressourcen. Sie beriefen sich auf das, was manche die »Trittstein-Theorie internationaler Ansprüche« nannten: Weil nämlich Europa die Kontrolle über Island und Grönland hatte — und weil Grönland so dicht an Baffinland lag — und Baffinland an der Hudsonstraße — und die an der Hudsonbai — und die an Labrador und Neufundland —, deshalb also sollte das ganze Territorium von München aus verwaltet werden, wo die bürokratischen Paläste Mitteleuropas standen.[22]
Noch ehe die Vereinigten Staaten wieder Tritt gefasst hatten und in der Lage waren, diesem Anspruch die Stirn zu bieten, da gab es bereits von Devonland bis Kangiqsujuaq mitteleuropäische Bekohlungsstationen und mitteleuropäische Trawler in den reichen Gewässern des Foxebeckens und mitteleuropäische Kriegsschiffe vor den Belcherinseln und mitteleuropäische Truppen und Kolonisten, die in Battle Harbour und Goose Bay gelandet waren.
Amerika setzte sich zur Wehr, wie man sich denken kann. Das alles trug sich in der Amtszeit von Präsident Otis zu, der ein neues Nordamerika unter die Fittiche seiner zentralen Regierung nahm. Es war Otis, der uns nördliche Staaten wie Athabaska und Nunavut bescherte und der Nation ungeheure Territorien hinzufügte. Doch sein Feldzug gegen die Streitkräfte Mitteleuropas war weniger erfolgreich, und das wird in den offiziellen Lehrbüchern unter den Tisch gekehrt. Es spricht für sich, dass am Ende der dreißigjährigen Amtszeit von Präsident Otis die Deutschen dauerhaft Fuß gefasst hatten in Labrador, ein rebellisches Neufundland besetzt hielten und das Nordufer des Sankt Lorenz vom Meer bis Baie Comeau kontrollierten.[23]
22
Manchmal wurden noch windigere Rechtfertigungen vorgetragen, u. a. die Hypothese, dass vor langer Zeit die Wikinger an der Ostküste Nordamerikas gelandet seien; doch Julian stellte die Geduld seiner Zuhörer auf eine harte Probe und beschränkte seine Darstellung auf die wichtigsten Punkte.
23
Selbst diese winzige Skizze historischer Fakten strapazierte das geografische Verständnis seiner Zuhörer, und Julian sah sich gezwungen, mit der Spitze seines Bajonetts Karten in den Staub zu malen.