»Sieht aus, als kämen wir schlecht weg dabei«, meinte ein anderer Soldat.
»Vielleicht nicht«, sagte Julian, denn er war weder ein Pessimist noch ein Freund der Deutschen. »Der Feind lebt vom Nachschub, und der muss über den weiten Atlantik, und die Marine heizt den deutschen Versorgungsschiffen tüchtig ein. Ihre Armee kann nur schrumpfen, während unsere wächst. Und das Entscheidende ist«, fügte Julian mit einem breiten Grinsen hinzu, »wir sind Amerikaner und sie nicht.«
Es folgte ein »Hurra« auf die Vereinigten Staaten, und man schlug sich mit der Faust auf die Brust; die Rekruten gingen davon und prahlten, wie sie den Feind in die Flucht schlagen und den Deutschen zeigen würden, aus welchem Holz amerikanische Soldaten geschnitzt waren. Es war Lymon Pugh, der zurückblieb und fragte: »Woher wissen Sie das alles, Julian Commongold? Sind Sie so was wie ein Gelehrter? Sie reden wie einer.«
Mit einem Schulterzucken wich Julian der Frage aus: »Ich bin aus New York City — ich lese Zeitung.«
Das erinnerte Lymon Pugh wieder ans Lesen und auch ans Schreiben, und er schwieg nachdenklich, während er mit uns zur Kantine ging.
Julians »Geschichtsseminare« blieben den ranghöheren Offizieren natürlich nicht lange verborgen. Sein Steckenpferd sprach sich herum, und die Dominion-Leute im Stab seien — wie man Sam steckte — gar nicht glücklich über Julians persönliche Auslegungen und schlügen vor, ihm einen Verweis zu erteilen. Doch der Lagerkommandant legte sein Veto ein, denn Julian sei ein vielversprechender Soldat, und seine freimütigen Reden hätten die Männer mehr erfrischt als ein Dutzend feurige Sonntagspredigten.
Sam hatte solche Skrupel nicht und machte Julian die Hölle heiß wegen seines losen Mundwerks — ermahnte ihn, dass Bekanntheit auf lange Sicht so gefährlich sein könne wie ein Gefecht, bei dem scharf geschossen werde — doch bei Julian standen die Ohren auf Durchzug.
Nach einer solchen Strafpredigt sagte Sam einmal zu mir: »Was rege ich mich auf? Das ist der Comstock in ihm.«
»Dann wird er ja ein guter Soldat«, sagte ich.
»Oder eine berühmte Leiche«, versetzte Sam.
Wir sollten für den Frühlingsfeldzug nach Osten verschifft werden, der Termin stand fest; doch vorher, an einem Sonntagnachmittag, trat Lymon Pugh noch einmal an mich heran.
»Dachte, ich könnte vielleicht noch lesen und schreiben lernen«, sagte er einfältig. »Es sei denn, ich habe zu lange gewartet. Was meinen Sie, Adam Hazzard? Muss man ein Kind sein, um das zu lernen?«
»Nein«, sagte ich, denn ich hielt mich in dieser Kommune für eine Art Evangelist in Sachen Lesen und Schreiben. Dass ich beides konnte, hatte die Runde gemacht, und viele Männer kamen und baten mich, ihnen beim Lesen und Aufsetzen ihrer Briefe zu helfen. »Jeder kann es jederzeit lernen. Es ist nicht allzu schwer.«
»Gilt das auch für mich?«
»Davon gehe ich aus.«
»Und würden Sie’s mir beibringen?«
Ich kam mir edelmütig vor — der Tag war strahlend hell, die Luft trug eine leise Wärme mit sich, und eine schläfrige Melancholie hing über dem Lager (zusammen mit dem morastigen Geruch einer auftauenden Prärie und dem bedauerlichen Latrinenduft). Ich streckte mich auf mein Feldbett, die Stiefel am Boden und meine Zehen im Freien. Lymon Pugh saß auf dem Feldbett daneben und fettete gedankenverloren sein Gewehr, die narbigen Pranken schienen ein Eigenleben zu führen. Ein Akt christlicher Nächstenliebe schien angebracht. »Aber eine Lektion reicht nicht, das sag ich dir. Wir müssen ganz weit vorne anfangen.« (Es könnte hier gewesen sein, dass ich anfing, ihn zu duzen.)
»Wir haben jede Menge Zeit, wenn wir nicht vorher ins Gras beißen. Sie bringen es mir in kleinen Portionen bei, Adam, ja?«
»Also gut, fangen wir mit dem Alphabet an. Das Alphabet ist eine Sammlung von allen Buchstaben, die es gibt, Lymon, und wenn du die einmal gelernt hast, weißt du immer, was du vor dir hast.«
»Wie viele Buchstaben gibt es?«
»Sechsundzwanzig.«
Lymon wirkte geknickt. »Das sind viele.«
»Das scheint nur so. Hier, ich schreibe sie auf, und du behältst das Blatt und lernst.« Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb alle Buchstaben auf, in der großen und kleinen Version: Aa — Bb — Cc — …
»Sie haben sich vertan«, bemerkte Lymon Pugh, als ich fertig war. »Das sind mindestens fünfzig.«
»Nein, nur sechsundzwanzig, aber von jedem gibt es zwei Spielarten, die eine ist größer, die andere kleiner. Großbuchstabe, Kleinbuchstabe.«
Er besah sich das Blatt und schien ratlos. »Vielleicht sollten wir das lassen … das krieg ich nie in den Kopf.«
»Kopf hoch, Lymon. Nehmen wir mal an, du gehst von Willamette Valley aus nach Osten und kommst in ein Dorf mit nur sechsundzwanzig Einwohnern und würdest da wohnen bleiben. Du würdest doch die Namen der ganzen Sippe ziemlich rasch lernen, oder? Und noch viel mehr über die Leute.«
»Menschen sind aber keine Striche und Schnörkel. Menschen laufen rum und reden und tun.«
»Buchstaben laufen vielleicht nicht rum, aber sie reden, denn jeder vertritt einen Laut. Pass auf, wir müssen dich jetzt nicht mit allen sechsundzwanzig Buchstaben auf einmal bekanntmachen. Das wär so, als wärst du ein Fremder unter lauter Fremden, man weiß nicht, wohin mit sich. Nimm einfach nur die ersten drei, als säßen sie rund ums Lagerfeuer und würden dich einladen …«
»Das ist albern.«
»Mach einfach mit. Hier ist A und sein Freund, das kleine a«, und dann ließ ich den großen und den kleinen Buchstaben reden (gab also den Laut von mir, den die Buchstaben vertreten) und wies Lymon Pugh an, die Laute zu wiederholen und die Laute mit der Gestalt des Buchstabens zu verbinden, etwa wie man einen Namen mit einem Gesicht verbindet. Als er das einigermaßen fertigbrachte, gingen wir zum schlichten, bauchigen Bb über und dann zum weniger schlichten, windigen Cc. Als er diese drei Buchstaben beherrschte, war nahezu eine Stunde vergangen, und ich hatte den Eindruck, dass Lymon Pugh wie ein Schwamm alles in sich aufgesogen hatte, was momentan Platz fand, und alles Weitere einfach außen vor bleiben würde.
Er war einverstanden, den Unterricht für heute zu beenden und, wenn nichts dazwischenkam, nächsten Sonntag fortzusetzen — doch er sagte noch: »Das sind nur Laute, und ich verstehe nicht, was das mit Schreiben oder Lesen zu tun hat.«
»Man kann sie so zusammensetzen und anordnen, dass daraus Wörter und Sätze werden. Aber satteln wir nicht das Pferd von hinten auf.«
»Gibt es ein Wort, das ich mit diesen drei Buchstaben machen kann?«
Mir fiel nur das Wort Cab ein, also schrieb ich es auf, und er war begeistert. »Ich will verflucht sein, wenn mein Onkel in Portland nicht vor Jahren eine Droschke gefahren hat, mit vier Pferden davor. Ich wünschte, ich hätte ihm das Wort aufschreiben können! Er hätte mich für einen verkappten Dominion-Gelehrten oder Aristokraten gehalten.«
»Und zwischendurch übst du deine Buchstaben, hier«, sagte ich und gab ihm noch ein leeres Blatt und einen Bleistift, den ich letzte Woche im Zelt des Quartiermeisters stibitzt hatte (weil ich gerne einen Vorrat an Bleistiften habe: Sie nutzen sich ab und sind oft schwer zu bekommen). »Du kannst jetzt CAB schreiben«, sagte ich und machte es ihm vor, »oder cab — das bedeutet dasselbe —, aber beides solltest du üben.«
»Wird gemacht«, sagte er, überlegte kurz und setzte hinzu: »Aber das kann ich nicht annehmen, Adam Hazzard. Sie haben viel Arbeit mit mir, und ich möchte Sie dafür bezahlen.«
Ich war schon froh, dass er mich nicht mehr mit seinen Fäusten traktierte, mehr an Bezahlung wollte ich nicht. Aber um die Situation zu retten, sagte ich: »Da ist sicher manches, wovon du mehr verstehst als ich, Lymon. Eines Tages kannst du dich revanchieren.«