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Doch diesmal standen die Zeichen auf Sturm.

Am fünfzehnten Dezember ritten die Reserve-Kavalleristen in die Stadt ein. Angeblich, um die Präsidentschaftswahl zu begleiten. In Williams Ford wie in den anderen weit von der Bundeshauptstadt entfernten Orten waren nationale Wahlen eine Formsache. Während die Bürger in die Wählerliste aufgenommen wurden, stand das Ergebnis schon fest, war längst entschieden worden in den dicht besiedelten Oststaaten — wenn es denn etwas zu entscheiden gab, was selten genug vorkam. Bei den letzten sechs Bundeswahlen hatte keine Person oder Partei kandidiert, und wir waren drei Jahrzehnte lang von dem einen oder anderen Comstock regiert worden. Wahlen waren praktisch nur noch Akklamationen.

Aber das war in Ordnung, denn eine Wahl war stets ein bedeutsames Ereignis, fast so wie ein richtiger Zirkus, eingeschlossen die Ankunft des Wahlpersonals und der Wahlhelfer, die immer etwas auf die Beine stellten.

Und dieses Jahr — das Gerücht kam aus den Gemächern des Landsitzes und war hinter vorgehaltener Hand weitergereicht worden — sollte in der Dominion-Halle ein Film gezeigt werden.

Ich hatte noch nie einen Film gesehen, obgleich ich von Julian wusste, was es damit auf sich hatte. Früher hatte er oft welche in New York City gesehen, und immer, wenn er nostalgische Anwandlungen hatte — denn für Julians Geschmack war das Leben hier in Williams Ford manchmal zu fade —, kam er auf die Filme zu sprechen. Als nun im Zuge des Wahlprozesses ein Film angekündigt wurde, waren wir beide ziemlich aufgeregt und verabredeten uns hinter der Dominion-Halle.

Keiner von uns hatte einen legitimen Grund, diese Vorstellung zu besuchen. Ich war zu jung, um zu wählen, und Julian wäre aufgefallen und hätte als einziger Aristokrat in einer Pächter-Versammlung womöglich gestört. (Die Hochgeborenen hatten ihre Stimme gesondert auf dem Landsitz abgegeben und hatten bereits Stellvertreter für die abhängige Arbeiterschaft gewählt.) Also ließ ich meine Eltern am frühen Abend zur Hall aufbrechen, sattelte ein Pferd meines Vaters und folgte ihnen heimlich. Knapp vor Beginn der Vorstellung kam ich an und wartete hinter dem Gemeindesaal, wo ein Dutzend Pächterpferde angebunden waren; Julian kam auf einem edlen Pferd und hatte sein Bestes getan, um sich als Pächter zu verkleiden: Hanfhemd, dunkle Hose und schwarzer Filzhut, tief ins Gesicht gezogen.

Er saß ab und sah bekümmert drein, daher fragte ich ihn, was los sei. Julian schüttelte den Kopf. »Nichts, Adam — oder noch nichts —, aber Sam meint, es braut sich was zusammen.« Und jetzt sah er mich mit einem Ausdruck an, der an Mitleid grenzte. »Krieg«, sagte er.

»Krieg! Es herrscht immer Krieg …«

»Eine neue Offensive.«

»Na, und wenn schon. Bis Labrador sind es eine Million Meilen.«

»Eine Million Meilen? Da muss Sam aber nachbessern. Nun ja, physisch mag die Front weit weg sein, aber sie hat einen langen Arm, verlass dich drauf.«

Ich wusste nicht, was er damit meinte, und beließ es dabei. »Sorgen können wir uns auch nach dem Film noch machen, Julian.«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, wahrscheinlich. Ob nachher oder vorher.«

Als wir die Dominion-Halle betraten, wurden die Fackeln gerade gelöscht. Wir bückten uns in die letzte Bankreihe hinein, fanden eine Lücke, setzten uns und harrten der Dinge.

Im vorderen Teil des Saals gab es eine breite Holzbühne. Alle religiösen Requisiten waren fortgeräumt worden, und anstelle von Kanzel oder Podest hatte man jetzt eine rechteckige weiße Leinwand aufgestellt. Auf jeder Seite der Leinwand gab es eine Art Zelt, in dem die Spieler mit ihren Texten und ihrem dramaturgischen Zubehör saßen: sprechende Hörner, Gongs, Holzklötze, eine Trommel, eine Blechflöte und dergleichen mehr. Das hier, meinte Julian, sei nicht zu vergleichen mit einem modernen Lichtspieltheater in Manhattan. In der City sei die Leinwand (also auch die Bilder, die darauf projiziert wurden) größer; die Spieler seien professioneller, denn das Vertonen in Wort und Geräusch waren anerkannte moderne Fertigkeiten, die talentierte Künstler anzogen; und es konnte zusätzliche Spieler hinter der Leinwand geben, die als dramatische Erzähler fungierten oder mit akustischen Spezialeffekten zauberten. Es konnte sogar ein Orchester geben, das Musik spielte, die eigens für eine Produktion komponiert war.

Die Spieler liehen den abgelichteten, aber stummen Schauspielern ihre Stimme. Während der Vorführung konnten sie den Film über ein Spiegelsystem verfolgen und ihren Text dank einer sorgfältig kaschierten Lampe lesen; sie sprachen, während die abgelichteten Schauspieler den Mund bewegten, so dass die Stimmen von der Leinwand zu kommen schienen. Genauso entsprach ihr Trommeln, Läuten und dergleichen bestimmten Situationen im laufenden Film.[5]

»In der Säkularen Ära hat man das natürlich besser gemacht«, flüsterte Julian, und ich hoffte inständig, dass niemand diese anstößige Bemerkung gehört hatte. Allen Aufzeichnungen zufolge waren Filme während der Blütezeit des Öls sehr spektakulär gewesen — mit aufgenommenem Ton, natürlichen Farben (selten in Schwarz-Grau), nur um einiges zu nennen. Aber die gleichen Aufzeichnungen sagten, dass sie furchtbar respektlos und nicht selten pornografisch gewesen waren. Zum Glück (oder leider, wie Julian sagen würde) schien kein Einziger überdauert zu haben; das Archivmaterial war längst verrottet, und die »digitalen« Kopien waren einfach nicht zu entschlüsseln. Diese Filme stammten aus dem zwanzigsten und frühen 21. Jahrhundert — jener Periode großartiger, unhaltbarer, hedonistischer Prosperität, angetrieben durch Verbrennen der natürlichen Ressourcen an Erdöl, was in der sogenannten Falschen Drangsal und den Kriegen und den Seuchen gipfelte und im schmerzlichen Gesundschrumpfen der aufgeblähten Bevölkerungszahlen.

Unsere beste amerikanische Tradition, wie die Dominion History of the Union beteuerte, hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, dessen Wirtschaftstugenden und bescheidene Industrie neu und unvollkommen zu etablieren wir durch die Umstände gezwungen wurden und dessen Fertigkeiten immer praktisch und dessen Publikationen nicht selten nützlich und lehrreich waren.

Doch ich muss zugeben, dass Julian mich mit seiner Abtrünnigkeit angesteckt hatte. Mir gingen unheilvolle Gedanken durch den Kopf, selbst noch als die Fackeln gelöscht waren und Ben Kreel (unser Dominion-Pfarrer, der vor der Leinwand auf und ab ging) eine Predigt über Nation, Pietät und Pflichterfüllung hielt. Krieg, hatte Julian gesagt und meinte nicht nur den endlosen Krieg in Labrador, sondern eine neue Phase dieses Kriegs, eine, die ihre Knochenhand nach Williams Ford ausstrecken konnte — auch nach mir? Und nach meiner Familie?

»Wir sind hier, um unsere Stimme abzugeben«, sagte Ben Kreel in seinem Resümee, »eine heilige Pflicht gegenüber unserem Glauben und unserem Land, einem Land, das so erfolgreich und gütig verwaltet wurde von seinem Führer, Präsident Deklan Comstock, dessen Wahlkämpfer, wie ich an ihren Handbewegungen erkenne, darauf fiebern, mit dem Programm des Abends fortzufahren; und so, ohne ein weiteres Adieu etc. wendet bitte eure Aufmerksamkeit auf die Vorführung ihres Films First Under Heaven, den sie zu eurem Vergnügen vorbereitet haben …«

Die erforderlichen Geräte waren in einem Planwagen nach Williams Ford gekommen: ein Projektionsapparat und ein tragbarer Schweizer Generator (wahrscheinlich von den Deutschen in Labrador erbeutet), betrieben mit destilliertem Alkohol. Der Generator war in einem eigens hinter der Kirche ausgehobenen Graben untergebracht — das Betriebsgeräusch, das man so hatte dämpfen wollen, drang jetzt allerdings aus den Dielen und hätte an das gereizte Knurren eines riesigen Hundes erinnern können, wenn es nicht zum integrativen Bestandteil des Augenblicks geworden wäre, als nämlich auch die letzte Flamme im Saal erlosch und die elektrische Lampe im mechanischen Projektor aufflammte.

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5

Die Illusion war ziemlich verblüffend, wenn die Spieler professionell waren, doch ihre Fehler konnten ebenso sehr verblüffen. Julian erzählte mir einmal von einer New Yorker Verfilmung von William Shakespeares Hamlet, in der ein Spieler betrunken ins Kino kam und dem unglücklichen Prinzen von Dänemark »Sea of troubles — (eine schlimme Verwünschung) — I have troubles of my own« in den Mund legte; es gab noch weitere Obszönitäten und viel unpassendes Geläut und vulgäres Pfeifen, bevor man den Mann Hals über Kopf ersetzen konnte.