Der Film begann. Da es mein erster war, war ich völlig verblüfft. Ich war so überwältigt von Fotografien, die »zum Leben erwachten«, dass ich mich kaum noch an den Inhalt erinnere … aber ich sehe ein weißes, reich verziertes Plakat mit dem Titel vor mir und erinnere mich an Szenen aus der Zweiten Schlacht von Quebec, nachgespielt von Schauspielern, völlig realistisch für mich, begleitet von Trommelschlägen und schrillen Blechflötenklängen, um Schüsse und Einschläge zu simulieren. Leute, die ganz vorne saßen, zuckten unwillkürlich zusammen, und etliche prominente Frauen der Stadt waren kurz davor, ohnmächtig zu werden, und packten Hände oder Arme ihrer Begleiter, die morgen früh womöglich so viele blaue Flecken hatten, als hätten sie selbst an der Schlacht teilgenommen.
Doch bald schon begannen sich die Deutschen unter der Kreuz-und-Lorbeer-Fahne vor den amerikanischen Streitkräften zurückzuziehen, und ein Schauspieler, der den jungen Deklan Comstock spielte, trat in den Vordergrund und rezitierte die Eidesformel zum Amtsantritt des Präsidenten (ein bisschen voreilig, doch die Geschichte wurde hier der Kunst zuliebe zurechtgestutzt) — und zwar jene Version, die beides erwähnt, den Kontinentalen Imperativ und die Schuld gegenüber der Vergangenheit. Gesprochen wurde er natürlich von einem der Spieler, einem tiefen Bass, der ernst und gewichtig aus dem Schallbecher drang. (Was ebenfalls eine Retusche war, denn der echte Deklan Comstock hatte eine ausgesprochen hohe Stimme und war leicht reizbar.)
Der Film ging über zu angenehmeren Episoden und malerischen Panoramen, in denen sich die Glanzpunkte der Amtszeit von Deklan dem Eroberer spiegelten — so nannte ihn die Laurentische Armee, die ihn in New York City an die Macht gespült hatte. Hier gab es die Rekonstruktion von Washington D.C. (ein nie vollendetes und nie aufgegebenes Projekt, behindert durch Sumpfklima und Insekten mit gefährlichen Erregern); dann die Illumination von Manhattan — Straßenlaternen, die ihren Strom aus einem Wasserkraftwerk bezogen, vier Stunden täglich, von 18.00 bis 22.00 Uhr; dann die Werft für Kriegsschiffe im Hafen von Boston, Kohlebergwerke, die wiederbelebten Walzwerke von Pennsylvania, die neuesten und glänzendsten Dampfloks, um die neuesten und glänzendsten Züge zu ziehen, und so weiter und so weiter.
Ich musste mich über Julians Reaktion wundern. Diese ganze Revue war doch nur zusammengebraut worden, um die Tugenden eines Mannes zu preisen, der Julians Vater auf dem Gewissen hatte. Ich für meinen Teil konnte jedenfalls nicht verdrängen, dass der hier so vergötterte Präsident in Wahrheit ein Brudermörder und Tyrann war. Aber Julians Augen hingen gebannt an den Bildern. Das hatte jedoch (wie ich später erfuhr) nichts mit den aktuellen Ereignissen zu tun, sondern mit seiner Faszination für »Cineastik«, wie er das Metier nannte. Dieses Herstellen von zweidimensionalen Illusionen spukte schon immer in seinem Kopf herum — es war vielleicht seine »wahre Berufung« und sollte schließlich in seinem cineastischen Meisterwerk The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin gipfeln … aber ich greife schon wieder vor.
Der jetzige Film erwähnte die erfolgreichen Raubzüge gegen die Brasilianer in Panama, die man unter dem Präsidenten Deklan dem Eroberer angestrengt hatte — das allerdings schien Julian ins Herz zu treffen, denn ich sah ihn einoder zweimal zusammenfahren.
So aufregend der Film war, meine Aufmerksamkeit löste sich von der Leinwand und ging auf Wanderschaft. Vielleicht lag es daran, dass dieses Ereignis einfach nicht zu Weihnachten passte. Oder es war der Einfluss von A History of Mankind in Space — seit unserem Ausflug zur Halde hatte ich jede Nacht ein oder zwei Seiten darin gelesen. Was immer die Ursache war, mich befiel eine plötzliche Melancholie. Alles, was mir vertraut war und mich hätte trösten können, war in meiner Nähe — die Versammlung der Pächterklasse, die Geborgenheit der Dominion-Halle, die Kirchenfahnen und Symbole der Weihnachtszeit —, und das alles kam mir plötzlich fadenscheinig vor — die Welt war ein Kübel, aus dem der Boden herausgefallen war.
Julian würde das vermutlich »die Perspektive des Philosophen« nennen. Ich fragte mich, wie die Philosophen das durchhielten. Über die verrufenen Ideen der Säkularen Ära hatte ich ein bisschen von Sam Godwin gelernt — und mehr von Julian, der Bücher las, die sogar Sam ablehnte. Mir kam Einstein in den Sinn und seine feste Überzeugung, dass kein Standpunkt privilegierter sei als ein anderer: mit anderen Worten seine »Allgemeine Relativitätstheorie« und ihre Behauptung, dass die Antwort auf die Frage »Was ist real?« mit der Frage beginnt: »Wo stehst du?« War ich, hier in dem Kokon von Williams Ford, nichts weiter als ein Standpunkt? Oder war ich die Inkarnation eines DNS-Moleküls, das, wie Julian gesagt hatte, nicht mehr genau wusste, ob es um einen Affen, einen Fisch oder eine Amöbe ging?
Vielleicht war ja die »Nation«, die von Ben Kreel so in den Himmel gepriesen wurde, auch nur die Ausprägung dieses offenbar natürlichen Trends — eine unvollkommene Erinnerung an eine anderen Nation, die selbst wieder eine unvollkommene Erinnerung an alle vorhergehenden Nationen war, den ganzen weiten Weg zurück bis zur Morgendämmerung des Menschen (im Garten Eden — oder in Afrika, wie Julian glaubte).
Der Film endete mit einem bewegenden Blick auf die amerikanische Fahne: Die Dreizehn Streifen und Sechzig Sterne schlugen sanfte Wellen in der Sonne und kündeten, so der Sprecher im Brustton der Überzeugung, von weiteren vier Jahren Wohlstand und Wohltaten unter der Führung von Deklan dem Eroberer, für den zu stimmen die Anwesenden dringend gebeten wurden, nicht dass man von irgendeinem Mitbewerber gewusst oder gehört hätte. Die Auffangspule schlug mit dem Filmende um sich; die elektrische Lampe wurde rasch gelöscht; das Wahlpersonal begann die Wandfackeln wieder zu entzünden. Etliche Männer aus dem Publikum hatten sich während der Vorführung eine Pfeife angesteckt, und der Tabakdunst vermengte sich mit dem Qualm der Fackeln zu einer blaugrauen Gewitterwolke, die unter den hohen Deckenbögen hing.
Julian schien beunruhigt und ließ sich, die Hutkrempe ins Gesicht gezogen, zusammensacken. »Adam«, flüsterte er, »wie sollen wir hier wieder rauskommen?«
»Durch die Tür«, sagte ich. »Warum so eilig?«
»Mach die Augen auf. Da sind zwei Reservisten postiert.«
Ich sah noch einmal hin. Er hatte Recht. »Überwachen die nicht nur die Abstimmung?« Denn Ben Kreel hatte sich wieder der Bühne bemächtigt und machte sich bereit, die Versammelten um ein formelles Handzeichen zu bitten.
»Tom Shearny, der Friseur mit dem Blasenleiden, wollte eben raus aufs Klo. Die haben ihn zurückgeschickt.«
Tom Shearny saß kaum einen Meter entfernt von uns, er krümmte sich und warf den Reservisten böse Blicke zu.
»Aber nach der Abstimmung …«
»Hier geht es nicht um Abstimmung. Hier geht es um Einberufung.«
»Einberufung!«
»Still! Willst du eine Panik? Ich hätte nicht gedacht, dass es so früh anfängt. Aber wir haben Telegramme von New York bekommen über eine Niederlage in Labrador und die Anforderung von neuen Divisionen. Wenn die Abstimmung vorbei ist, werden die Wahlhelfer wahrscheinlich eine Rekrutierungsaktion verkünden und alle Anwesenden namentlich erfassen und nach Namen und Alter ihrer Kinder befragen.«
»Wir sind zu jung, um eingezogen zu werden«, sagte ich, denn wir waren gerade mal siebzehn.
»Nicht nach dem, was ich gehört habe. Damit sie mehr Männer einziehen können, wurden die Bestimmungen gelockert. Oh, du kannst dich wahrscheinlich irgendwo verkrümeln, wenn die Auslese beginnt. Aber meine Anwesenheit hier ist wohlbekannt. Ich kann nicht einfach untertauchen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass man so viele Reservisten in ein Städtchen wie Williams Ford geschickt hat.«