»Was meinst du mit ›kein Zufall‹?«
»Mein Onkel war nie glücklich über meine Existenz. Er selbst hat keine Kinder. Also keine Erben, und er sieht in mir einen möglichen Rivalen für die Exekutive.«
»Aber das ist absurd. Du willst doch gar nicht Präsident werden, oder?«
»Eher würde ich mich erschießen. Aber Onkel Deklan hat einen Hang zum Argwohn, und er misstraut den Anstrengungen meiner Mutter, mich zu schützen.«
»Wie kann ihm deine Einberufung helfen?«
»Die ganze Aktion findet nicht wegen mir statt, aber ich bin überzeugt, er sieht darin ein nützliches Werkzeug. Wenn ich einberufen werde, kann ihm niemand nachsagen, dass er seine Familie aus der Schusslinie nimmt. Und wenn er mich in der Infanterie hat, werde ich mich ganz schnell an vorderster Front in Labrador wiederfinden — wo wir aus dem Schützengraben heraus einen noblen, aber selbstmörderischen Angriff vortragen.«
»Aber … Julian! Kann Sam dich denn nicht beschützen?«
»Sam ist ein Soldat im Ruhestand, er hat nur die Macht, die sich aus dem Patronat meiner Mutter ergibt. Was nicht eben viel ist in der momentanen Reichswährung. Adam, gibt es noch einen anderen Weg aus dem Gebäude?«
»Nur die Tür, wenn du keine von den bunten Fensterscheiben einschlagen willst.«
»Kann man sich hier verstecken?«
Ich überlegte. »Vielleicht«, sagte ich. »Da ist ein Raum hinter der Bühne, wo die religiösen Requisiten lagern. Rein kommt man von beiden Seiten, aber er hat keinen Hinterausgang.«
»Wird schon werden. Solange wir unbemerkt hinkommen.«
Das war nicht besonders schwer, denn nicht alle Fackeln brannten wieder, ein großer Teil des Saals lag noch im Halbdunkel, und das Publikum vertrat sich die Füße und reckte und streckte sich, während sich die Wahlhelfer bereitmachten, den Ausgang der Abstimmung festzuhalten, die gleich stattfinden würde — Wahlhelfer waren pedantische Buchhalter, ungeachtet der Tatsache, dass alles ein abgekartetes Spiel war und die Ballsäle für den jüngsten Amtsantritt von Deklan dem Eroberer längst gebucht waren. Julian und ich schlenderten von einem Schatten zum nächsten, vermieden tunlichst den Anschein von Eile, bis wir seitlich der Bühne waren. Wir bummelten in der Nähe des besagten Eingangs herum, bis ein einfältiger Reservist, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte, zum Abbau von Projektor und Leinwand gerufen wurde — das war unsere Chance. Wir duckten uns durch den Vorhang in eine fast totale Finsternis. Julian stolperte über ein Hindernis (ein Teil des kircheneigenen Tackpianos, das ein reisender Piano-Mechaniker zwecks Reinigung zerlegt hatte — den Mann hatte aber, bevor er seine Arbeit beenden konnte, ein tödlicher Anfall ereilt), und das Resultat war ein hölzernes »Bong«, das laut genug schien, um die ganze Kirche zu alarmieren — es aber dann doch nicht war.
Das bisschen Licht, das es hier gab, sickerte aus einem verglasten Oberlicht, das sommers zum Lüften aufgeklappt wurde. Die Nacht war bewölkt und wurde nur durch die Fackeln an der Hauptstraße erhellt. Aber in dem Maße, wie sich unsere Augen an das Duster gewöhnten, wurde das Fenster immer heller. »Vielleicht kommen wir da raus«, meinte Julian.
»Nicht ohne Leiter. Obwohl …«
»Was denn, Adam? Raus mit der Sprache.«
»Hier lagern sie die langen Holzstufen für die Chortreppe. Vielleicht geht es damit.«
Julian verstand sofort, was ich meinte, und fing an, den schemenhaften Inhalt des Lagerraums so eingehend zu inspizieren, wie er die Halde inspiziert hatte. Wir fanden die rohen Kiefernholzpodeste und schafften es, sie hoch genug zu stapeln und dabei nicht allzu viel Lärm zu machen. (Im Gemeindesaal registrierten die Wahlhelfer ein einstimmiges Votum für Deklan Comstock, und dann sprach sich allmählich die Rekrutierungsaktion herum, gerade so, wie Julian vermutet hatte. Einige wenige erhoben lauthals Einwände; Ben Kreel bat lautstark um Ruhe — niemand hörte, wie wir mit den Podesten herumrückten.)
Das Fenster lag mindestens zehn Fuß über dem Boden und war schmerzhaft eng; draußen mussten wir uns an die Fingerspitzen hängen, bevor wir uns fallen ließen. Fast hätte ich mir den rechten Fuß verstaucht.
Die vorhin schon kalte Nacht war noch kälter geworden. Wir waren ziemlich nahe bei den Pfosten gelandet, an denen die Pferde festgemacht waren; die Tiere wieherten bei unserem Erscheinen und bliesen Dampf aus ihren Nüstern. Eben begann ein feiner, sandiger Schnee zu fallen. Aber es war fast windstill, und die Weihnachtsbanner baumelten schlaff in der spröden Luft.
Julian ging schnurstracks zu seinem Pferd und band es los. »Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Du, Adam, wirst weiter nichts machen, als dein Leben zu schützen, während ich …«
Doch er schreckte davor zurück, seine Pläne auszusprechen, und Angst huschte über sein Gesicht.
»Wir können abwarten«, beharrte ich ein bisschen verzweifelt. »Die Reservisten können nicht ewig in Williams Ford bleiben.«
»Nein. Und ich leider auch nicht, denn Deklan der Eroberer weiß, wo ich zu finden bin.«
»Wo willst du denn hin?«
Er legte einen Finger an die Lippen. Von der Kirche drangen Geräusche herüber. Die Türen waren aufgestoßen worden, und die Menschen strebten ins Freie.
»Reite hinter mir her«, sagte Julian. »Rasch jetzt!«
Ich tat, was er sagte. Wir folgten nicht der Hauptstraße, sondern einem Weg, der hinter der Schmiede und durch den bewaldeten Uferstreifen des River Pine nach Norden in Richtung Landsitz abbog. Die Nacht war finster, und die Pferde schritten langsam aus. Doch sie fanden fast instinktiv den Weg, und etwas Licht drang immer noch aus der Stadt, gestreut vom rieselnden Schnee, der mein Gesicht mit hundert kleinen kalten Fingern berührte.
»Ich hatte nie vor, in Williams Ford zu bleiben«, sagte Julian. »Das hättest du wissen müssen, Adam.«
Sicher, hätte ich. Es war ja Julians Dauerthema: dass nichts von Dauer war. Er predigte das regelrecht. Ich hatte das immer auf seine Kindheit zurückgeführt — den Tod seines Vaters, die Trennung von seiner Mutter, die wohlmeinende, aber unpersönliche Anleitung durch Sam Godwin.
Ich musste einmal mehr an A History of Mankind in Space denken und an die Fotos darin — nicht von den ersten Menschen auf dem Mond, die Amerikaner waren, sondern von den letzten Besuchern dieser himmlischen Sphäre, den Chinesen in ihren korallenroten »Raumanzügen«. Wie vor ihnen die Amerikaner hatten sie in Erwartung weiterer Besuche ihre Flagge aufgepflanzt; doch das Ende des Öls und die Falsche Drangsal hatten ihre Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen lassen.
Dann sah ich die noch einsameren Marsebenen vor mir, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte, fotografiert von Maschinen, wie das Buch behauptete. Das Universum schien randvoll mit einsamen Gegenden. Irgendwie war ich in eine hineingestolpert. Die Schneeböe erstarb. Der unbewohnte Mond spähte durch die Wolken, und auf den Winterfeldern von Williams Ford lag ein unirdischer Schimmer.
»Wenn du fortmusst«, sagte ich, »dann lass mich mitkommen.«
»Nein«, sagte Julian. Er hatte den Hut über die Ohren gezogen, um sich gegen die Kälte zu wappnen, und ich sah nicht viel von seinem Gesicht, aber seine Augen glänzten, wenn er hersah. »Danke, Adam. Ich wünschte, es wäre möglich. Aber es geht nicht. Du musst hierbleiben und deine Einberufung nach Möglichkeit vereiteln und deine literarischen Kenntnisse und Fertigkeiten ausbauen und eines Tages Bücher schreiben, wie Mr. Charles Curtis Easton.«
Das war ein Wunschtraum, der im Laufe des letzten Jahres in mir erwacht war, genährt durch unsere gemeinsame Liebe zu Büchern und Sam Godwins Übungen im Aufsatzschreiben, etwas, worin ich ein unverhofftes Talent[6] zu haben schien. Im Augenblick war mir mein Traum ziemlich egal. »Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagte ich.
6
Kein Talent, das mir fix und fertig in die Wiege gelegt wurde. Nur zwei Jahre vorher hatte ich Sam Godwin meine erste fertige Geschichte vorgelegt, die ich