»Da irrst du dich«, entgegnete Julian. »Du darfst nicht den Fehler machen und denken, weil nichts von Dauer ist, ist alles egal.«
»Ist das nicht der Standpunkt des Philosophen?«
»Nicht, wenn der Philosoph weiß, wovon er redet.« Julian zügelte sein Pferd und sah mir offen ins Gesicht, seine Miene bekam etwas Gebieterisches, verriet mit einem Mal den Comstock. »Hör zu, Adam, du kannst etwas Wichtiges für mich erledigen — es ist nicht ganz ungefährlich. Willst du?«
»Ja«, sagte ich sofort.
»Dann pass jetzt gut auf. Nicht lange, und die Reservisten werden die Ausfallstraßen überwachen — wenn sie es nicht schon tun. Ich muss fort von hier, und zwar heute Nacht noch. Vermisst werde ich frühestens morgen früh und dann auch nur von Sam — erst mal wenigstens. Ich möchte, dass du Folgendes tust: Reite nach Hause — deine Eltern werden sich Sorgen machen wegen der Einberufung, und du kannst versuchen, sie zu beruhigen. Aber kein falsches Wort — du weißt von nichts, hast du verstanden? Und als Allererstes morgen früh reitest du zum Landsitz und suchst Sam auf. Erzähle ihm, was sich in der Dominion-Halle zugetragen hat, und sag ihm, er soll sich so schnell wie möglich in den Sattel schwingen und die Stadt verlassen, aber erst, wenn er sicher sein kann, dass man ihm nicht auflauert. Sag ihm, er findet mich in Lundsford.«
»Lundsford! Es gibt gar nichts in Lundsford.«
»Exakt — nichts, was die Reservisten auf die Idee bringen könnte, dort nach uns zu suchen. Du erinnerst dich, was der Dicke letzten Herbst gesagt hat? Über das Depot, wo sie diese Bücher gefunden haben? ›Eine Senke in der Nähe der Hauptgrabung.‹ Da soll Sam mich suchen.«
»Wird gemacht«, versprach ich und blinzelte gegen den kalten Wind, der meine Augen irritierte.
»Danke«, sagte er ernst. »Für alles.« Dann zwang er sich zu lächeln, und einen Moment lang war er nicht mehr der Neffe des Präsidenten, sondern einfach Julian, der Freund, mit dem ich Eichhörnchen gejagt und in den Mond gestarrt hatte. »Frohe Weihnacht, Adam«, sagte er. »Für diesmal und alle künftigen Weihnachten.«
Dann wendete er sein Pferd und ritt davon.
4
In Williams Ford gibt es einen Friedhof, und auf dem Heimweg ritt ich daran vorbei, doch Flaxie, meine Schwester, lag hier nicht begraben.
Als Mitglieder der Church of Signs hatten wir keinen Anspruch auf eine Grabstätte im Garten des Dominion. Flaxie lag hinter unserem Cottage, kenntlich gemacht durch ein bescheidenes Holzkreuz; aber der Friedhof ließ mich an sie denken, und nachdem ich das Pferd in den Stall gebracht hatte, blieb ich frierend an ihrem Grab stehen und tippte grüßend an meinen Hut, so wie ich sie zeit ihres Lebens gegrüßt hatte.
Flaxie war ein gescheites, unverschämtes und schadenfrohes kleines Ding gewesen, so flachsblond, wie ihr Spitzname sagte. Mit Vornamen hieß sie Dolores, aber für mich hatte sie immer nur Flaxie geheißen. Die Pocken hatten sie ganz plötzlich dahingerafft, und das war vielleicht besser so. Ich konnte mich nicht an ihren Tod erinnern — ich hatte mit den gleichen Pocken gerungen, obwohl ich sie überlebt habe. Eines weiß ich noch ganz genau — ich bin aus dem Fieber aufgewacht, und das Haus war merkwürdig still. Keiner wollte es mir sagen, aber Mutters zerweinte Augen sagten genug. Der Tod hatte Lotterie gespielt, und Flaxie hatte den Kürzeren gezogen.
(Es ist, glaube ich, wegen der Flaxies, dass wir weiter an das Himmelreich glauben. Ich habe nur wenige Erwachsene getroffen, abgesehen von den Enthusiasten der etablierten Kirchen, die mit Inbrunst an diesen Himmel glauben; und dieser Himmel war nur ein schwacher Trost für meine trauernde Mutter. Aber Flaxie, die fünf Jahre alt war, hatte aus ganzem Herzen an diesen Himmel geglaubt — sich vorgestellt, er sei so etwas wie eine Sommerwiese mit blühenden Wildblumen und einem nie enden wollenden Picknick —, und wenn dieser kindliche Glaube sie über ihre größte Not hinweggetragen hat, dann hat er einem edleren Zweck als der Wahrheit gedient.)
Heute Nacht war das Cottage fast so still wie an dem Morgen nach Flaxies Tod. Ich kam durch die Tür und sah, wie meine Mutter sich mit dem Taschentuch die Augen tupfte und mein Vater stirnrunzelnd in die Pfeife stierte, als habe sie eine Frage aufgeworfen, auf die er keine Antwort wusste. »Die Einberufung«, sagte er, als erklärte das alles. Und tat es das nicht?
»Ich weiß«, sagte ich. »Die Spatzen pfeifen es von den Dächern.«
Meine Mutter war zu verwirrt, um etwas zu sagen. Mein Vater fuhr fort: »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, Adam, aber …«
»Ich habe keine Angst, meinem Land zu dienen.«
»Tja, das ist eine lobenswerte Einstellung«, sagte er, und meine Mutter weinte wieder mehr. »Aber wissen wir denn, was das Land braucht? Vielleicht ist die Lage in Labrador gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«
So wortkarg Vater war, ich hatte oft genug seinen Rat gesucht und wie selbstverständlich bekommen. Er wusste zum Beispiel, dass ich mich vor Schlangen ekelte; weshalb ich, mit Mutters Segen, den Sakramenten unseres Glaubens fernbleiben durfte, und auch den giftigen Schwellungen und Amputationen, die manchmal nötig wurden. Obwohl ihn mein Widerwille enttäuschte, hatte er mich trotzdem im Umgang mit Schlangen unterwiesen — etwa wie man eine Schlange packen musste, um nicht gebissen zu werden, oder wie man sie tötete, wenn es einmal nötig sein sollte.[7] Vater dachte praktisch, wie ungewöhnlich seine Überzeugungen auch waren.
Doch diesmal wusste er keinen Rat. Er sah aus wie ein Gejagter am Ende einer Sackgasse — vorne ging es nicht weiter, und zurück war zu gefährlich.
Ich ging auf mein Zimmer, aber nicht, um zu schlafen. Stattdessen schnürte ich ein paar leichte Sachen zusammen — meine Eichhörnchenbüchse, die vor allem, und ein paar Notizen und Aufsätze und A History of Mankind in Space. Vielleicht sollte ich noch etwas gepökeltes Schweinefleisch mitnehmen oder etwas in der Art, aber ich entschied mich, noch zu warten, Mutter sollte nicht merken, dass ich packte.
Kurz vor Morgengrauen zog ich mehrere Sachen übereinander an, rollte mir die Krempe des Päckels[8] über die Ohren und kletterte übers Fensterbrett nach draußen; nachdem ich Gewehr und Bündel nachgeholt hatte, zog ich das Fenster wieder zu. Dann schlich ich über den offenen Hof bis zum Stall, sattelte Rapture, einen schnellen und kräftigen Wallach, und ritt los — unter einem Himmel, der eben seinen ersten Grauschleier bekam.
Der Schnee war liegen geblieben. Ich war nicht der Erste, der an diesem Wintermorgen auf den Beinen war, und die kalte Luft roch bereits nach Weihnachten. Die Bäckerei von Williams Ford war hell erleuchtet, und der hefige Duft nach Weihnachtskuchen und Zimtbrötchen hing wie ein berauschender Nebel im Nordwestende der Stadt. Es regte sich kein Lüftchen. Blau und still stahl sich der Tag heran.
Es weihnachtete überall — denn heute war schließlich Heiligabend —, aber auch die Rekrutierung war nicht zu übersehen. Die Reservisten waren schon aus den Betten, wie Schatten kamen die schmuddelig Uniformierten vorbei, und ein ganzer Trupp hatte sich am Haushaltswarenladen versammelt. Sie hatten eine verblichene Fahne ausgehängt und ein Schild aufgestellt, das ich nicht lesen konnte, denn ich hatte mir vorgenommen, den Soldaten auf keinen Fall zu nahe zu kommen; aber ich wusste, wie ein Rekrutierungsposten aussah. Ich war überzeugt, dass die Hauptausfallwege bereits scharf bewacht wurden.
Ich nahm einen Nebenweg zum Landsitz, am Fluss entlang, denselben, den Julian und ich letzte Nacht geritten waren. Unsere Fußspuren waren noch deutlich zu sehen, andere Spuren gab es nicht. In der Nähe des Landsitzes saß ich in einem Kieferngehölz ab, band Rapture an einen Baum und ging zu Fuß weiter.
7
»Packe sie da, wo bei anderen Tieren der Hals ist, nämlich hinter dem Kopf; kümmere dich nicht um den Rest der Schlange, egal wie sehr er um sich schlägt; und schlage auf ihren Schädel ein, so oft und so lange wie nötig, um sie zu bezwingen.« Ich gab diese Anweisungen an Julian weiter, der geradezu panische Angst vor Schlangen hatte: »Das könnte ich nicht, niemals!«, hatte er laut protestiert. Leser, die mit seinem späteren Werdegang vertraut sind, mag diese überzogene Scheu verwundern.
8
Ein Päckel ist eine hutartige Kopfbedeckung aus einem steifen Wolloder Hanfteller, der eine Röhre aus dem gleichen Material verschließt, die zu einer Art Krempe aufgerollt wird.