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Endlich, nach Mitternacht und allerlei heimlichen Vorbereitungen befand ich mich mit Julian und dem übrigen Stab in einem leidlich befestigten Schützengraben nahe der Front. Wir saßen an einem primitiven Tisch, auf dem zwei Lampen brannten, während Julian einen Brief des deutschen Oberkommandierenden las, in dem wir — in Anbetracht Ihrer unhaltbaren Besetzung einer Stadt, deren Gerichtsbarkeit früher oder später ohnehin wieder von uns ausgeübt wird — zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert wurden. Der mitteleuropäische General hieß Vierheller[85] und versprach, wir würden gut behandelt und eines Tages nach dem Ende der Feindseligkeiten wieder in amerikanisches Territorium entlassen.[86]

»Sie haben die Nase wieder oben«, bemerkte ein Regimentskommandeur.

Julian war gezwungen gewesen, seinen Stab über die Natur der chinesischen Waffe aufzuklären, obwohl er ein paar Details für sich behielt. Sie begriffen, dass wir den Deutschen einen tüchtigen Schrecken einjagen wollten und dass es galt, jede Schwäche oder Verwirrung, die sich infolgedessen zeigte, rasch und wirksam auszunutzen. Für die meisten Kommandeure würde es sich um einen ganz und gar der militärischen Tradition verhafteten Angriff handeln.

»Ein bisschen Angst werden die noch haben«, meinte Julian. »Vielleicht können wir sie erinnern, warum sie gut daran tun.«

Also gab es eine kleine Ouvertüre zu dem Drama, das er geplant hatte. Eine Stunde nach Mitternacht brachte er seine Röhrenmänner so dicht an die Front, wie sie sich noch in Sicherheit wähnen durften. Das deutsche Heer lagerte auf der Ebene hinter den Hügeln, wo sich unsere Abwehrstellungen befanden. Ihre Feuer hatten ausgesehen wie zahllose Sterne in einem riesigen schwarzen See, und wir hatten den bedrohlichen Geräuschen ihrer Manöver gelauscht. Heute Nacht schliefen sie; doch Julian wollte sie aufwecken. Wie ein Dirigent hob er die Hand und gab den Einsatz. Der schaurige Lärm setzte nicht abrupt ein, nein, er fing an mit einem einzelnen Mann, der einen einzelnen Heulton erzeugte, zu dem sich bald andere und immer noch andere gesellten, bis der ganze gemischte Chor — der an die Schreie ruheloser Seelen erinnerte, die von geschäftstüchtigen Dämonen für solche Zwecke vermietet wurden — an das Bewusstsein der feindlichen Infanteristen appellierte, die zutiefst verstört aus dem Schlaf fuhren. Überall auf der Ebene mussten die deutschen Soldaten aus dem Schlaf gefahren sein und nach ihren Gewehren gegriffen und ängstlich in die frostige Nacht gespäht haben, um nichts als ein paar kalt glitzernde Sterne am mondlosen Himmel zu sehen, während das Geheul wieder verebbte.

»Es wird sie eine Weile beschäftigen«, sagte Julian nicht ohne Genugtuung.

»Was wohl in ihnen vorgeht?«

»Schlimmes. Ihre Fantasie spielt uns in die Hände. Was malt sich wohl ein deutscher Infanterist aus, wenn er über das Gerücht einer chinesischen Geheimwaffe grübelt?«

»Keine Ahnung.«

»Ich auch nicht; aber es könnte sein, dass sich seine Fantasie aus den uralten Geschichten der europäischen Kriege speist, die mit den verrücktesten und schrecklichsten Waffen ausgetragen wurden, einschließlich Flugzeugen und Giftgas. Vielleicht weckt das Heulkonzert diese schlummernden Schreckgespenster, und die schwarzen Drachen tragen das Ihre dazu bei. Wir werden es noch früh genug erfahren.«

Im Schein einer Lampe reinigte und ölte ich mein Pittsburgh-Gewehr, in greifbarer Nähe lag ein üppiger Vorrat an Munition, denn selbst der Stab des Generalmajors war nicht von den bevorstehenden Kampfhandlungen ausgenommen — jeder halbwegs gesunde amerikanische Soldat in Striver und Umgebung musste irgendwann im Laufe des Tages seinen Mann stehen.

Julian konnte seine Befehle nicht aus dem Hintergrund erteilen. Die Drachen sollten hinter einer niedrigen Bodensenke gestartet werden, die mit halbrunden Schanzen gespickt war und gefährlich nahe an den deutschen Linien lag. Die beste Wirkung würden die Drachen nur bei tiefer Dunkelheit erzielen, also mussten wir sie lange genug vor dem Morgengrauen steigen lassen, noch vor dem ersten Schimmer, den die Sonne an den Horizont schickte; und unsere Regimenter standen Gewehr bei Fuß, um bei diesem ersten Schimmer vorzurücken. Julian stand in unserem hartgefrorenen Graben oder ging darin auf und ab und schaute immer wieder auf seine Armeeuhr und in seinen Almanach, um sich der genauen Zeit des Sonnenaufgangs zu vergewissern. Schließlich begann er vor sich hin zu murmeln; mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen und dem blonden Bart, in dem lauter Eiskristalle glitzerten, sah er älter aus, als er es an Jahren war.

Seine Adjutanten und Subkommandeure warteten ungeduldig auf das erlösende Wort. Schließlich sah er von seiner Uhr auf und lächelte dünn. »Also dann«, sagte er. »Besser zu früh als zu spät.«

Mit diesen Worten stieg er bis an den äußersten Rand der Brustwehr und befahl die einen an die Leinen und die anderen an die Drachen. »Und — in den Wind damit!«

Es verlief alles ziemlich so wie auf dem Lagerhaus in Striver, allerdings mit gewissen Abweichungen. Auf dem Dach hatten die Drachen Eimer mit Sand getragen. Diese Nacht hingen schwere Fellsäcke an ihrem Zaumzeug. Ich fragte Julian nach dem Inhalt.

»Alles, was schädlich und ungesund ist«, sagte er. »Manche enthalten reines Ätznatron oder Industrie-Lösungsmittel. Manche sind mit Bleichlauge gefüllt, andere mit Abfällen aus der Gerberei oder aus dem Feldlazarett. Manche enthalten Entlausungsmittel oder gemahlenes Glas.«

Die Säcke waren tüchtig mit Leuchtfarbe beschmiert worden. Sonst hätten erstens die Deutschen nichts zu sehen bekommen und zweitens unsere Männer den Aufstieg nicht verfolgen können. Ich hatte mir Sorgen um den Wind gemacht, der ziemlich launisch war; vor kurzem erst hatte er Geschwindigkeit aufgenommen und schwang sich zu stürmischen Böen auf. Die Drachen entfalteten sich mit einem lauten, mürben Knall. Sie stiegen, prüften ihr Gepäck, zögerten. Dann raste die grün leuchtende Ladung gen Himmel.

Sofort ließ Julian wieder die Röhren schwingen, damit die Deutschen auch ja auf der Hut waren.

Ich kann nicht sagen, wie hoch die Drachen stiegen, aber ihre ausgeklügelte Konstruktion hielt sie in etwa auf gleicher Höhe und in stabiler Lage zueinander. Sie sahen aus wie hundert oder mehr unheimliche, hüpfende grüne Lichter, die über dem dichten mitteleuropäischen Heerlager aufgegangen waren wie ein Schwarm aus der Art geschlagener Sterne. Einem feindlichen Infanteristen war es unmöglich, Größe oder Nähe der Erscheinung abzuschätzen — weswegen Julian sich so angestrengt hatte, die deutsche Fantasie mit Andeutungen und Gerüchten zu füttern.

Natürlich wurden die Drachen bemerkt. Beinah augenblicklich begannen drüben die Trompeten zu schmettern, laut genug, um nicht völlig in unserem Heulkonzert zu ertrinken. Ich spähte durch eine Schießscharte in der hartgefrorenen Brustwehr und sah in den Stabszelten des mitteleuropäischen Heerlagers Laternen flackern. Ein paar übereilte Schüsse wurden abgegeben. Die Hände um den Mund gelegt, beugte ich mich zu Julian hinunter: »Wenn sie nun die Drachen abschießen, Julian?«

»Noch nicht — sie sind zu hoch. Und wenn sie doch schießen, Adam, dann zielen sie nicht auf die Drachen, sondern auf die Ladung.«

Der Vormann an den Leinen rief Zahlen, die er von seiner großen Spule ablas — Zahlen, die der abgespulten Länge entsprachen. Die anderen hielten vermutlich Schritt, während Julian auf einem Block Papier mit Zahlen jonglierte, und die Hanfseile an den verankerten Holzspulen ruckten und sangen.[87]

Endlich hatte Julian ein Resultat und gab den Befehl, Leine auszugeben. Die Männer ließen ihre Leine einen Augenblick länger ablaufen, ehe sie die Spule mit einem Holzkeil bremsten.

Die grün leuchtende, toxische Fracht glitt näher an die feindliche Infanterie heran, und wieder waren Gewehrschüsse zu hören.

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85

Die Mitteleuropäer wissen vermutlich, wie man diesen Zungenbrecher ausspricht — ich weiß es nicht.

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86

Diese Feindseligkeiten hielten schon Jahrzehnte an, und ein Ende war nicht in Sicht, was die versprochene Entlassung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschob.

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87

Bis auf den heutigen Tag begreife ich nicht, wie Julian es angestellt hat, die Position der Drachen abzuschätzen, indem er ihre scheinbare Höhe über dem Horizont und die abgespulte Seillänge aufschrieb. Es kommt mir wie schwarze Magie vor, obwohl es um nüchterne Zahlen ging und nicht um Zaubersprüche oder Krötenfüße.