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Für Margeaux

Das Haus war eine Villa, der See war ein Pool, Kitty ein Hund und Juniper Berry ein elfjähriges Mädchen.

Wie viele elfjährige Mädchen konnte sie es kaum erwarten, dass ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kamen. Mit einem Fernglas in der Hand saß sie oben auf der Treppe, schaute aus dem vorderen Fenster im zweiten Stock und wartete darauf, dass sich das goldene Tor vor ihrem Haus langsam öffnete. Heute war Italienischer Abend und es sollte Pizza geben. So sah es zumindest der Wochenplan vor, doch Juniper konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihn zuletzt eingehalten hatten. Seit einer Weile vernachlässigten ihre Eltern alles, sie selbst eingeschlossen.

Doch Juniper gab die Hoffnung nicht auf. Irgendwann würden ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kommen und sich furchtbar freuen, sie zu sehen. Sie würden den Rest des Tages und alle folgenden Tage gemeinsam verbringen, ohne eine Minute, ja nicht einmal eine einzige Sekunde zu verschwenden, so wie früher.

Juniper war ein Einzelkind, ein einsames Kind, und das lag hauptsächlich an ihren Eltern. Mr. und Mrs. Berry waren sehr berühmt. Sie waren Filmstars mit allem, was dazugehörte, und bekamen eine Stange Geld, um die Menschen im Sommer mit Blockbustern und im Winter mit Filmpreisverleihungen zu unterhalten. Von Kollegen und Fans geachtet, verehrt und geliebt, lieferten sie den Klatschspalten ständig neues Futter und wurden in der ganzen Welt erkannt. Darum die abgeschiedene Villa mit dem Tor.

Juniper hätte allerdings nie gedacht, dass auch sie ausgeschlossen werden würde. Doch genauso war es. Die Welt vor dem Tor war so weit weg, dass sie genauso gut der Mond oder der Mars oder der Ereignishorizont des schwärzesten aller Schwarzen Löcher hätte sein können.

Inzwischen hatte Juniper sich an ihre Isolation gewöhnt. Sie hatte ihr Fernglas immer dabei und beobachtete die Dinge aus sicherer Entfernung, stets auf der Suche nach dem, was sie nicht hatte.

Auf einem Stativ in ihrem Zimmer stand ein Teleskop, sie besaß ein altes Monokular, das sie in einer passenden Tasche aufbewahrte, eine Schwimmbrille für die Abenteuer unter dem Wasser, ein Mikroskop und ein Vergrößerungsglas für die Welt, die noch kleiner war als ihre. Das Entdecken und Erforschen war ihre Rettung.

Wenn sie schon nicht in die Welt hinausgehen konnte, so konnte sie die Welt doch wenigstens zu sich nach Hause holen, die Sterne, die Insekten, die ahnungslose Ferne. Alles, nur ihre Eltern nicht.

Doch heute würde es anders sein, das spürte sie einfach. Sie hatte alles genau geplant, von dem Moment an, in dem ihre Eltern zur Tür hereinkamen, bis zu der Sekunde, in der sie einschlief. Es würde alles genauso ablaufen wie zu der Zeit, als sie noch nicht berühmt waren.

Obwohl es lange her war, sah sie noch genau vor sich, wie die Haustür geöffnet wurde.

»Mommy! Daddy!« Sie war hinunter in die Halle gesprungen und auf ihre Eltern zugerannt. Doch als sie nur noch wenige Schritte von ihnen trennte, war sie plötzlich wie angewurzelt stehen geblieben.

Mr. Berrys Mund stand merkwürdig offen, ein Spuckefaden hing zwischen seinen Zähnen. Sein Körper sah verdreht aus, seine Bewegungen waren unbeholfen und die Augen glasig und so weit nach hinten gerollt, dass man nur noch das Weiße sehen konnte. Stöhnend wankte er direkt an Juniper vorbei.

»Dad?« Sie warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, aber Mrs. Berry hob nur die Schultern und ihre Lippen zuckten seltsam.

Juniper sah wieder zu ihrem Vater. Was ist los mit ihm? Sie streckte die Hand aus und …

»Ahh!«, brüllte er, fuhr herum und hob seine Tochter in die Luft.

Juniper strampelte mit den Beinen und kreischte vor Wonne und überwältigender Erleichterung.

»Oh, ich musste mich so zusammenreißen, um nicht zu lachen. Er hat zwischen seinen Vorsprechterminen daran gearbeitet«, erklärte Mrs. Berry. »Du weißt doch, wie er ist. Er muss völlig mit seinen Figuren verschmelzen.«

»Nur dass Junipers Zombie lebendiger ist als alles, was ich heute gelesen habe.« Mr. Berry lachte. »Wahrscheinlich habe ich die Rolle deshalb nicht bekommen.« Er drückte Juniper fester an sich. »Hattest du ihn dir so vorgestellt, Juniper? Den Zombie aus deiner Geschichte? Habe ich ihn richtig hinbekommen?«

Juniper nickte nachdrücklich. »Ich hab die Geschichte heute fertig geschrieben.«

Mr. Berry streckte einen knochigen Finger in die Luft und rief einem imaginären Assistenten zu: »Besorgt diesem Kind einen Agenten!«

»Schreib ein Drehbuch für uns, Juniper«, sagte ihre Mutter. »Dann werden wir die berühmteste Familie Hollywoods!«

»Das mach ich. Versprochen!«

Als sie jetzt auf ihre Eltern wartete, ein neues Manuskript in der hinteren Hosentasche und Kitty, ihren Hund, neben sich, straffte Juniper den Rücken. Früher waren sie bestens miteinander ausgekommen. Sie hatten ihre eigenen Stücke aufgeführt, in dem Zimmer, das zu jener Zeit extra dafür vorgesehen gewesen war (und vor Kurzem zu einem privaten Fitness-Studio komplett mit Sauna, Flachbildschirm-Fernsehern, Saftbar, Whirlpool und einem Personal Trainer umfunktioniert worden war). Damals hatte Juniper ihre kurzen, humorvollen Drehbücher in einem rasenden Tempo geschrieben, eins nach dem anderen, Szene für Szene und immer für zwei Personen.

Juniper führte Regie und ihre Eltern sprachen den Text. Es war beeindruckend, wie schnell sie sich die Zeilen merken konnten und mit wie viel Überzeugung sie jedes Wort sprachen. Sie füllten den Raum mit ihren tiefen Stimmen, als würden sie einen Nebel aus Tönen ausatmen. Die Figuren wurden durch ihre Darstellung wunderbar lebendig. Es war, als würden Junipers Worte nun ihnen allen dreien gehören.

»Bravo! Bravo!«, jubelte Juniper heiser vor Lachen. Wenn das Stück vorbei war, verbeugten sich ihre Eltern. Dann winkten sie Juniper auf die behelfsmäßige Bühne, und sie musste ebenfalls eine Verbeugung machen, während ihre Eltern begeistert applaudierten. Zum Schluss fassten sich alle drei an den Händen und verbeugten sich noch einmal gemeinsam.

Abends lachten sie wieder, wenn sie sich die Videoaufnahmen der Aufführung anschauten, eine Schüssel frisches Popcorn zwischen sich, die Beine liebevoll übereinandergelegt.

»Ein Meisterwerk!«, sagte ihr Vater jedes Mal. Juniper wurde rot, damals wie heute.

Aber all das hätte in einem anderen Leben passiert sein können. Juniper, die immer noch durch das Fernglas sah, musste sich wieder einmal sagen, dass diese Dinge tatsächlich geschehen und nicht nur ein Produkt ihrer Fantasie waren. Dass ihre Eltern, tief in ihrem Innern, immer noch dieselben Menschen waren wie damals.

Aus einer halben Stunde Wartezeit wurde eine ganze, aus einer Stunde wurden zwei. Es war schon fast dunkel und Junipers Magen knurrte. Sie hatten es vergessen. Wieder.

Juniper ging in die Küche und betrachtete die Zutaten fürs Abendessen, die sie ordentlich auf die Arbeitsplatte gestellt hatte.

Sie begann, sich ohne großen Aufwand eine Pizza zu machen. Keine Grapefruit-Stücke, keine Schokoladen-Splitter, keine zerkrümelten Kartoffelchips. Lustlos verteilte sie die Soße und den Käse. Es war schrecklich, allein zu sein, einfach schrecklich. Natürlich gab es die Hausangestellten, eine ständige Flut von Reinigungskräften, Gärtnern, Köchen, Chauffeuren und Handlangern. Während Juniper darauf wartete, dass ihre einfache Käsepizza fertig wurde, konnte sie die letzten Axthiebe des Waldarbeiters hören, der das Brennholz zu Ende hacken wollte, bevor es anfing zu regnen. Die Angestellten waren zwar immer auf dem Gelände, aber es waren Erwachsene, mit denen sie nicht sprechen sollte, abgesehen von ihrer Hauslehrerin Mrs. Maybelline.

Wenn Juniper sich langweilte, was oft vorkam, dachte sie gerne an ihr früheres kleines Haus zurück, das mehr als vier Mal in die Villa gepasst hätte. Dafür war es ständig von Tanten und Onkeln, Großeltern, Cousins und Cousinen, Freunden und der Vorfreude auf die Schule und tägliche Fahrten mit dem Schulbus erfüllt gewesen. Doch das war vorbei. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr ihre Eltern.