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»Ich könnte allein leben«, fuhr Giles fort. »Ich weiß, dass ich es kann. Das Problem ist nur, dass es auf dieser Welt überall Menschen gibt.«

Nur hier nicht, dachte Juniper.

»Wir könnten unsere eigene kleine Welt haben, Giles. Genau hier.«

Er lachte. »Klingt gut. Unser eigener Planet. Bis ich wieder in die Schule muss.«

Und so lebten sie den Rest des Tages in ihrer eigenen Welt und jeder hatte im anderen einen Freund gefunden.

Obwohl beide keine große Erfahrung mit Freundschaften hatten, taten das einsame Mädchen und der verstoßene Junge genau das, was zwei Freunde tun sollten. Juniper freute sich so darüber, einen Freund zu haben, dass sie den Baum beinahe vergaß. Natürlich würde es nicht lange dauern, bis sie wieder daran erinnert werden würde – spätestens wenn sie das nächste Mal ihren Eltern begegnete –, aber ein paar Stunden lang fühlte sich Juniper fast unbeschwert.

Juniper und Giles unternahmen einige interessante Expeditionen zu besonders abgelegenen Stellen des Grundstücks, machten um die Lichtung aber einen großen Bogen. Sie beobachteten mit Junipers Ferngläsern eine Menge Vögel und Tiere, die sie alle in Junipers Notizbuch festhielten.

»Kann ich damit bis ins Weltall sehen?«, fragte Giles und suchte den Himmel mit dem Fernglas ab.

»Nicht einmal annähernd. Aber ich habe ein Teleskop in meinem Zimmer.«

»Kann ich es mir mal anschauen?«, fragte Giles aufgeregt.

Juniper sah zu Boden und murmelte: »Das erlauben meine Eltern bestimmt nicht.«

»Oh.« Giles zupfte an seiner löchrigen Jeans herum und wippte auf seinen Absätzen. »Kannst du weit damit sehen?«

»Mit dem Teleskop? Sehr weit. Ich habe schon Sternschnuppenschwärme, die Phasen der Venus, Mondkrater und, mit meinem Sonnenfilter, Sonnenflecken gesehen. Ich habe sogar die Schatten der Jupiter-Monde auf seiner Oberfläche gesehen.«

»Wow, echt? Stell dir bloß vor, was es sonst noch alles dort draußen gibt.«

»Du brauchst gar nicht so weit weg zu gehen. Genauso viel kann man in einem Ameisenhaufen entdecken.«

Giles’ Augen suchten den Boden nach einer Ameise ab. Leise begann er zu singen: »Liegst du am Boden, dann schau dich gut um, es gibt viel zu lernen und du bleibst nicht dumm …« Plötzlich verstummte er verlegen.

»Was war das?«, fragte Juniper.

Giles wurde rot und zuckte nervös mit den Schultern. »Ach, nichts. Nur ein Lied, das meine Mutter mir früher immer vorgesungen hat. Ich hatte es bis gerade vollkommen vergessen.«

»Du hast eine schöne Stimme.«

Giles lächelte, doch plötzlich verschwand das Lächeln von seinem Gesicht und seine Augen wurden traurig. »Früher haben wir oft zusammen gesungen. Mein Vater hat mir seinen Plattenspieler gegeben. Er meinte, Musik würde auf Schallplatten gefühlvoller klingen. Wir haben oft zusammengesessen und alte Songs gesungen. Das fehlt mir.« Giles sah Juniper ernst an. »Werden unsere Eltern irgendwann wieder so sein wie früher?« Seine Stimme zitterte.

Juniper fröstelte und ihr wurde eiskalt. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Darum nahm sie nur seine Hand und drückte sie vorsichtig.

Sie verjagten ihre Angst, indem sie sich mit allen möglichen Beschäftigungen ablenkten. Sie verfolgten Kitty quer durch den Wald, nachdem Juniper Giles erklärt hatte, wie das Spiel funktionierte. Sie setzten Taucherbrillen auf, suchten in den schattigen Tiefen des beheizten Swimmingpools nach versunkenen Schätzen und machten Saltos vom Sprungbrett. Sie untersuchten einen Marienkäfer unter dem Mikroskop. Sie spielten Verstecken, wobei Juniper keinen großen Unterschied zu »Hierher, Kitty!« feststellen konnte, abgesehen davon, dass Giles ihr verbot, ihre Ferngläser zu benutzen. Es war, als wären sie schon seit Jahren Freunde.

Als es allmählich dunkel wurde und Giles gerade nach Hause gehen wollte, schlug Juniper ein letztes Spiel vor: »Wie wär’s mit einem Wettrennen? Bis zum Ende des Gartens und zurück.«

Giles sah sie ängstlich an. »Muss der Verlierer irgendwas Peinliches tun?«

»Was? Nein! Wir machen es nur zum Spaß.«

Giles war einverstanden. Kurz vor dem Start fragte er: »Bist du schnell?«

»Keine Ahnung«, antwortete Juniper.

Giles hob die Arme und rief »Auf die Plätze, fertig, los!«, da Juniper nicht wusste, dass man ein Wettrennen so begann. Dann rannten sie los, dass die Beine nur so flogen. Beide gaben alles. Giles war ziemlich schnell, und Juniper stellte überrascht fest, dass sie es ebenfalls war. Nach wenigen Sekunden hatten sie die halbe Strecke geschafft, drehten um und liefen zurück zur Ziellinie. Juniper grinste die ganze Zeit. Nach dem Wettrennen umarmten sie einander und verabschiedeten sich.

Sie hatten einvernehmlich beschlossen, dass das Rennen zu knapp ausgegangen war, um einen Sieger feststellen zu können.

Doch für jemanden mit scharfen Augen so wie Juniper war das Ergebnis eindeutig: Sie hatte gewonnen!

Juniper hatte eine Idee, die Idee reifte zu einem Plan, und der Plan sollte so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden. Es war schon lange Schlafenszeit. Juniper hatte sich die Decke bis zum Kinn gezogen, den Kopf in ihr weiches Kissen gedrückt und schlief. Genau genommen tat sie nur so, denn das gehörte zu ihrem Plan. Sie versuchte unter ihren fast geschlossenen Augenlidern hindurch zu blinzeln, um die Schatten zu erkennen, die gleich durch den Flur zu ihrem Zimmer kommen mussten.

Sie brauchte nicht lange zu warten.

Während der Regen gegen das Fenster prasselte und von Minute zu Minute stärker wurde, sah sie, wie die dunklen Schatten ihre Zimmertür erreichten. Da waren sie.

Juniper hatte den Plan am frühen Abend gefasst, kurz nachdem Giles nach Hause gegangen war. Kitty war nicht ganz unschuldig daran. Zitternd hatte sie vor Juniper gestanden, heftig winselnd und mit traurigem, starrem Blick. Sie hatte mehrmals an Junipers Beinen gekratzt und war dann durch die Halle gelaufen.

Juniper war ihr neugierig gefolgt.

Eine Minute später stand sie vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Durch die geöffnete Tür war lautes Stöhnen zu hören. »Oooohhh. Oooohhhh.« Es klang wie jemand, der furchtbare Schmerzen hatte.

Als Juniper das Zimmer betrat, sah sie ihren Vater auf dem Boden liegen. Er lag auf dem Rücken, mit weit von sich gestreckten Armen und Beinen wie ein vom Himmel gefallener Stern, und starrte an die Decke. Plötzlich hörte er auf zu stöhnen und begann leise und unheimlich zu singen. Kranke, entstellte Töne krochen kratzend und knirschend tief aus seiner Kehle empor und wuchsen beinahe zu einem Schrei an:

»Was ist richtig, was ist falsch?

Mein Kopf ist leer.

Ich seh nichts mehr.

Mein Kopf ist leer.

Nichts als weiße Leere.

Ich bin ich und doch nicht ich.

Ich bin nicht ich und bin doch ich.

Ich bin ich und doch nicht ich.

Ich bin nicht ich und bin doch ich.«

Dann griff er sich an den Bauch und begann wieder zu stöhnen, mit dieser Stimme, die nicht seine zu sein schien. »Oooohhh, oooohhhh.«

»Dad?«

Mr. Berrys Kopf fuhr herum, aber er schien direkt durch sie hindurch zu sehen. Seine Augen machten Juniper Angst, und mit klopfendem Herzen ging sie einen Schritt zurück, bereit, jederzeit wegzurennen.

»Ja, Juniper?« Die Worte klangen verzerrt, ihr Name war zu einem kehligen Fauchen geworden. Es klang, als würden zwei Stimmen gleichzeitig sprechen, die ihres Vaters und die eines anderen Wesens, das nicht von dieser Welt war. Er schluckte und hustete, musste beinahe würgen.

»Geht … geht es dir gut?«

»Nein«, flüsterte er mit einer Stimme, die wieder mehr nach ihm selbst klang.