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»Was ist los?«

»Ich bin verloren. Die Rolle … ich komme einfach nicht damit klar. Entweder kann ich mich nicht in die Figur hineinversetzen oder sie lässt mich nicht mehr los. Ich weiß es nicht mehr. Die Teile passen nicht zusammen.«

Juniper verstand das nicht. Ihr Vater hatte in Dutzenden von Filmen die Hauptrolle gespielt und wurde von allen grenzenlos bewundert, am meisten von ihr selbst. Sie warf einen Blick auf das Regal mit den Filmpreisen. Zwei Oscars, vier Golden Globes und unzählige Kritikerpreise. Er hatte noch nie solche Schwierigkeiten mit einer Rolle gehabt. Noch niemals.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, ich fürchte nicht.«

»Warum nicht?«

Er sah wieder zur Decke, hob die Arme und raufte sich seine rotbraunen Haare. »Vergiss, was ich gesagt habe. Geh zu deiner Mutter und sag ihr, dass ich mit ihr reden muss. Beeil dich. Es ist dringend.«

Während er mit nach oben gestreckten Armen dalag und seine Finger an seinen dichten Haarbüscheln zerrten, rutschten seine Ärmel hinunter und entblößten rote Zeichen, die Juniper fast den Magen umdrehten. »Dad? Was ist das da auf deinen Armen?«

Schnell zog Mr. Berry seine Ärmel wieder nach unten und setzte sich abrupt auf. Er starrte sie aus kranken, rot glühenden Augen an und brüllte: »Raus!«

Als Juniper davonrannte, musste sie daran denken, was Giles von seinen Eltern erzählt hatte. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, und sie musste herausfinden, was es war. Sie ballte die Fäuste. Sie brauchte einen Plan.

Juniper wartete, bis ihre Mutter die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen hatte, dann suchte sie nach der besten Stelle, um ihre Eltern zu belauschen. Als sie sie gefunden hatte, hielt sie ein Glas an die Tür. Sie drückte ihr Ohr gegen das Glas und schloss die Augen. Bald fanden die Worte ihrer Eltern ihren Weg durch die Tür und in das Glas.

»Wie lange ist es her?«, fragte Mrs. Berry. Ihre Stimme klang dumpf, war aber ansonsten gut zu verstehen. »Ich glaube, ich verliere allmählich jedes Zeitgefühl.«

»Halte nur noch bis heute Nacht durch.«

»Wir tun doch das Richtige, oder?« Mrs. Berry hustete heftig. Sie klang furchtbar krank, doch das schien Mr. Berry nicht zu kümmern.

»Da fragst du noch? Es ist der einzige Weg.«

»Du weißt, dass ich es hasse, dorthin zu gehen.«

»Willst du etwa sagen, das sei es nicht wert? Willst du alles aufgeben, was wir haben? Und zurückkehren zu … zu …« Mr. Berry brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden.

»Zu unserem alten Leben?«

»Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Du?«

»Es gibt nicht viel, woran man sich erinnern könnte, oder?«

»Nein, ich glaube nicht. Ein Grund mehr, um …«

Es gab einen Knall. Stöhnen und Poltern. Junipers Herz raste, als sie versuchte, aus den Geräuschen schlau zu werden.

»In mir drin …« Es war die Stimme ihrer Mutter. »Es tut so weh.«

»Steh auf. Kämpf dagegen an! Es wird schon dunkel. Bald können wir aufbrechen.«

Juniper hatte genug gehört. Sie floh in ihr Zimmer.

Stunden später, als der Plan endlich in die Tat umgesetzt wurde, bewegten sich die Schatten auf dem Flur. Juniper zog ihre Decke noch etwas höher und kniff die Augen zusammen. Es knarrte leise, als die Tür langsam geöffnet wurde. Einen Augenblick später tauchte der Kopf ihres Vaters im Türrahmen auf. Er warf einen kurzen Blick ins Zimmer und flüsterte: »Sie schläft. Wir müssen jetzt gehen.«

Mrs. Berry zog ihren Mann von der Tür weg. »Wir brauchen es! Es ist wichtiger als alles andere. Ich glaube, ich würde sterben ohne …«

»Leise! Sie könnte dich hören. Wir dürfen sie nicht mit hineinziehen. Niemals! Komm jetzt.«

Ihre Eltern verschmolzen mit den Schatten.

Juniper schnellte komplett angezogen in ihrem Bett in die Höhe, als hätte sie jemand mit einer glühenden Nadel gestochen, beugte sich zu ihrem Nachttisch hinüber und griff nach dem Fernglas. Sie atmete tief ein und trat ans Fenster. Draußen lag der Garten in völliger Dunkelheit. Sie hielt sich das Fernglas vor die Augen.

Die neueste Ergänzung ihrer Sammlung war ein Nachtsichtaufsatz für ihr Fernglas. Sie hatte ihn sich schon lange gewünscht und schließlich zu ihrem letzten Geburtstag bekommen. Der Chauffeur hatte ihn ihr in einer blauen Schachtel überreicht, zusammen mit einer Karte, auf der »Alles Liebe, Mom und Dad« stand. Sie bekam zwar immer noch Geschenke zu ihrem Geburtstag oder zu Weihnachten, aber ihre Eltern waren, wie an den meisten anderen Tagen, für gewöhnlich nicht da.

Und jetzt würde sie herausfinden, warum.

Sie suchte den Garten ab und wartete darauf, ihre Eltern im strömenden Regen auftauchen zu sehen. Die Welt schien nur noch aus verschiedenen Grüntönen zu bestehen. Es gab Hellgrün und Olivgrün, Gelbgrün und Dunkelgrün, Tannengrün und Neongrün, Frühlingsgrün und Grasgrün. Aber erstaunlicherweise war alles klar zu erkennen. Sie sah die Bäume, das Gras, die Nachttiere, die Gartenlaube, den prallen Mond und die Regentropfen, die auf das Wasser des Pools prasselten, in allen Einzelheiten. Sie sah die Welt, als würde sie von einer neongrünen Sonne erhellt.

Aber ihre Eltern blieben unsichtbar. Hatte sie sich doch geirrt? Gab es keinen Zusammenhang zwischen dem Verhalten ihrer Eltern und dem Baum, den sie und Giles untersucht hatten?

Die Zimmertür öffnete sich knarrend.

Juniper schnappte nach Luft und fuhr herum. Ein Schatten kam über den Teppich auf sie zu, ein katzenhaft geformter Schatten. Juniper seufzte erleichtert. Es war nur Kitty. Es tröstete sie, ihren Hund zu sehen und zu wissen, dass sie nicht allein war. Und sie war sich ziemlich sicher, dass es Kitty genauso ging.

Kitty sprang auf das Bett. »Du spürst es auch, nicht wahr?«, flüsterte Juniper und strich ihr schnell über das Fell. »Ich habe gesehen, wie du sie gemieden hast. Aber das ist okay. Ich werde herausfinden, was mit ihnen los ist.« Beruhigt rollte sich Kitty auf dem Kissen zu einer Kugel zusammen und Juniper wandte sich wieder dem Fenster zu. Gerade noch rechtzeitig. Da waren ihre Eltern! Sie rannten zu den Bäumen und hielten sich dabei ihre Jacken über die Köpfe. Die gelben Lichtstrahlen von zwei Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit.

»Siehst du?«, sagte Juniper. »Ich hab’s gewusst!«

Juniper hatte ihre Turnschuhe bereits an. Sie rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zur Hintertür. Kitty war ihr dicht auf den Fersen. Leise öffnete Juniper die Tür und folgte ihren Eltern in den Wald, so wie Giles seinen Eltern gefolgt war.

Der Regen glättete ihr Haar und durchnässte ihre Kleider im Handumdrehen, aber davon ließ sie sich nicht aufhalten. Heimlich verfolgte sie ihre Eltern. Sie lief geduckt zwischen den Bäumen hindurch und bewegte sich so nah wie möglich am Boden, aber das wäre gar nicht nötig gewesen: Ihre Eltern drehten sich kein einziges Mal um. Durch ihr Nachtsichtfernglas konnte Juniper sehen, wie eilig sie es hatten, ihr Ziel zu erreichen.

Mit Kitty im Schlepptau fand Juniper das Loch, das sie vor ein paar Jahren für ihre persönliche Ausgrabungsstelle ausgehoben hatte – sie hatte Fossilien oder Schätze oder beides gesucht –, und ließ sich hineinfallen. Mit auf den Rand gestützten Ellbogen beobachtete sie, wie ihre Eltern durch das schlammige Dickicht marschierten. Nur die Regentropfen waren zu hören, die auf die schwarze Plane fielen, mit der das Loch ausgekleidet war.

Die Bäume schwankten unheimlich im Mondlicht, mit ausgestreckten Zweigen, die sich wie Tentakel bewegten. Alle Tiere, abgesehen von Kitty, hatten sich längst einen Unterschlupf gesucht. Juniper sah ihre treue Gefährtin an. »Das also ist es«, sagte sie.

Ihre Eltern waren nicht auf der Suche. Sie wussten genau, wo sie hinwollten. Sie liefen direkt dorthin, direkt zu dem Baum, genau wie Juniper es vermutet hatte. Und tatsächlich saß der Rabe auch im strömenden Regen auf seinem Ast und beobachtete, wie Mr. und Mrs. Berry den Baumstamm erreichten. Er schlug mit den Flügeln und krächzte in die mitternächtliche Dunkelheit.