Juniper betrachtete ihre Eltern durch das Fernglas. Sie sahen irgendwie erleichtert aus, beinahe glücklich. So glücklich hatte Juniper sie schon lange nicht mehr gesehen. Unter dem blassen Mond erschien das Lächeln auf ihren Gesichtern, nach dem sich Juniper so lange vergeblich gesehnt hatte.
Mr. Berry drückte gegen den Stamm. Kurz darauf kauerte sich seine Frau hinter dem Baum zusammen und war verschwunden. Sie tauchte weder auf der anderen Seite noch weiter hinten im Wald noch irgendwo anders wieder auf. Sie war einfach nicht mehr da. Juniper beugte sich vor. »Giles hatte recht«, flüsterte sie.
Mr. Berry folgte ihr, ebenso wie der Rabe. Es musste irgendeinen Durchgang direkt hinter dem Baum geben, etwas, das nicht zu sehen war und worin man verschwinden konnte. Juniper ließ das Fernglas nicht einmal sinken, um sich den Regen aus den Augen zu wischen. Sie wartete.
Während sich das Loch langsam mit Wasser füllte, schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf. Wenn es dort tatsächlich so etwas wie eine Tür gab, wohin führte sie und wie hatten ihre Eltern sie entdeckt? Wie lange gingen sie schon zu dem Baum? Warum kamen sie immer wieder her? Und warum erzählten sie ihr nichts davon?
Sie hatte ihre eigenen Antworten auf all diese Fragen, aber sie konnte sie nicht beweisen, darum verwarf sie sie schnell wieder. Vermutungen, Gerüchte und Verdächtigungen reichten ihr nicht. Nein, sie wollte die echten und wahren Antworten erfahren, so wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Und wenn sie die Wahrheit wissen wollte, würde sie sie selbst herausfinden müssen.
Der Regen lief ihr über das Gesicht. Sie zitterte, ihre Zähne klapperten und sie hatte am ganzen Körper Gänsehaut. So muss sich Giles neulich gefühlt haben, wurde ihr klar. Bloß dass ich nirgendwohin gehe. Ich warte genau hier auf meine Eltern.
Achtundzwanzig Minuten später tauchten Mr. und Mrs. Berry wieder auf. Juniper war gleichzeitig erleichtert und nervös. Im einen Moment waren sie da, im nächsten verschwunden und jetzt wieder da. Als würden sie von den Toten auferstehen.
Als sie sich vom Baum entfernten, sah Juniper etwas hinter ihnen her schweben und in der Nachtluft tanzen. Ist das etwa … nein, das konnte nicht sein.
Zitternd richtete sie ihr Fernglas auf die schwerelosen Objekte. Doch was sie sah, ergab keinen Sinn. Jede Logik musste vom Regen weggespült worden sein. In der linken Hand ihres Vaters und in der rechten ihrer Mutter waren Ballons. Ein grüner und ein violetter Ballon an einer Schnur, wie auf einer Kirmes. Gemeinsam gingen Mr. und Mrs. Berry durch den Wald wie zwei Kinder, die sich verlaufen hatten.
Juniper wich zurück und nahm endlich das Fernglas von ihren müden Augen. Ihr Herz schlug wie wild. Ihre Hände zitterten. Was hat das zu bedeuten? Was passiert hier?
Es war Zeit, es herauszufinden.
Sobald ihre Eltern das Haus erreicht hatten, kletterte Juniper aus dem Loch. Kitty winselte. Vielleicht witterte sie Angst, Gefahr oder etwas anderes. »Nein«, flüsterte Juniper. »Ich muss das tun, Kitty. Ich muss es wissen.«
So leise wie möglich öffnete sie die Hintertür und ging ins Haus. Sie war klitschnass. Zu dieser Zeit hätte eigentlich nur das Wispern des Hauses, sein Knarren und Knacken, Ticken und Tacken zu hören sein sollen. Doch als Juniper mit leise schmatzenden Schuhen in die Halle kam, drangen flüsternde Stimmen an ihr Ohr. Sie konnte kein Wort verstehen und folgte den wispernden Stimmen um mehrere Ecken.
Ihre Eltern waren im Esszimmer.
Sie schlich durch die Halle und näherte sich vorsichtig der Tür, bis sie ihre Unterhaltung deutlich hören konnte.
»Bist du bereit?«, fragte ihr Vater mit zitternder Stimme.
»Ich hasse diesen Teil«, erwiderte ihre Mutter.
Juniper kauerte sich auf den Boden und reckte den Hals, um einen Blick ins Esszimmer werfen zu können. Ihre Eltern saßen am Tisch, jeder an einem Ende, und drückten die Ballons mit beiden Händen auf die steinerne Tischplatte, als wären sie drauf und dran, sie zu essen. Ihre Augen sahen hungrig aus, aber ihre angespannten Körper schienen gegen ihr Verlangen anzukämpfen.
»Es ist besser so. Denk an unsere Zukunft. Wir brauchen es.«
Ihre Mutter nickte langsam.
»Wir tun es gleichzeitig, auf drei.« Ihr Vater begann zu zählen: »Eins, zwei, drei.«
Sie führten die Ballons zum Mund, während ihre Finger hektisch die Knoten lösten. Gierig begannen sie, die Luft aus den Ballons zu saugen.
Dieses Geräusch ließ Juniper hochschnellen. Sie schlürften die Luft wie Suppe, immer schneller und schneller rann sie ihre Kehlen hinab.
Ohne nachzudenken, rannte Juniper ins Esszimmer. »Was macht ihr da?«
In diesem Moment begriff sie, was echte Angst ist.
Ihre Mutter drehte sich um. Ihr Gesicht war beinahe geschmolzen, unter ihrer Haut brodelte es, und sie schrie mit der grauenvollsten Stimme, die Juniper je gehört hatte: »Raaaauuuus!«
Die Worte klangen dunkel und erstickt, wie ein zerquetschtes, zerstörtes Nebelhorn. Die Augen ihrer Mutter sahen vollkommen anders aus als sonst, sie standen unnatürlich weit hervor, während die Iris zusammenschrumpfte. Ihre Lippen wurden schlaff und ihr Unterkiefer hing herab, als die Luft aus dem Ballon sich ihren Platz in Mrs. Berrys Körper suchte. Ihre Haut blubberte wie kochendes Wasser.
Bestialisches Stöhnen erklang vom anderen Ende des Tisches. Dort war der Kopf ihres Vaters nach hinten gekippt, seine Augen starrten zur Decke, als wäre er zufriedengestellt, doch seine Beine zitterten heftig und sein Körper zuckte. Er sah nicht ein einziges Mal zu seiner Tochter.
Während die Adern an ihrem Hals anschwollen, schrie Mrs. Berry noch einmaclass="underline" »Raaaauuuuus!«
Und Juniper floh aus dem Zimmer.
Nach einer schlaflosen Nacht voller Angst verließ Juniper vorsichtig ihr Zimmer. Bereits auf der Treppe merkte sie, dass etwas anders war als sonst. Der Geruch nach gebratenen Eiern lag in der Luft, und sie hörte, wie es in einer Pfanne auf dem Herd brutzelte. Sie lief durch das Haus und betrat die Küche. Draußen ging gerade die Sonne an einem orangefarbenen Himmel auf. Ihre Eltern saßen am Tisch und frühstückten, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Aber Juniper spürte sofort, dass die Luft vor guter Laune förmlich vibrierte.
»Wie schön, dass du schon wach bist«, begrüßte sie ihre Mutter. »Wir haben dir etwas übrig gelassen.« Sie schob einen Teller mit herrlich duftendem Rührei und einem Würstchen zu der sprachlosen Juniper hinüber. »Iss, iss, iss«, gurrte sie.
Verwirrt und zögernd nahm Juniper Platz, ohne ihre Eltern aus den Augen zu lassen. Doch sie machten einen durch und durch freundlichen Eindruck, keine Spur von Verlegenheit oder Schuldgefühlen wegen der Dinge, die sie in der vergangenen Nacht getan hatten. Mrs. Berry lächelte und Mr. Berry pfiff vor sich hin. Er gab sogar Kitty, die ebenfalls äußerst wachsam war, etwas vom Rührei ab (das tat er sonst nie) und behauptete, Eier seien gut für ihr Fell.
Erinnerten sich ihre Eltern überhaupt noch daran, was nur Stunden zuvor geschehen war? Jetzt, im direkten Vergleich zu ihrem Zustand in der vergangenen Nacht, wirkten sie voller Energie. Ihre Haut war glatt und ihre Körper strotzten vor Kraft. Das Einzige, was sie verriet, waren ihre Augen. Ihr Glanz, an den Juniper sich aus ihrer frühen Kindheit erinnerte, war fast völlig verschwunden. War dies schon wieder eine neue Version ihrer Eltern?
»Die Eier schmecken köstlich«, sagte Mr. Berry zu seiner Frau. »Genau das, was ich heute brauchte. Es gibt so viel zu tun. Jetzt weiß ich endlich, wie ich diese Figur angehen muss. Ich kann ihre Stimme genauso deutlich hören wie meine eigene. Es ist, als würde sie schubsen und drängeln, um endlich hinausgelassen zu werden. Diese Rolle wird mein Meisterwerk. Ich weiß es einfach.« Er klatschte in die Hände und reckte eine Faust in die Luft, was ein bisschen peinlich aussah.