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Juniper sah zu ihrer Mutter, die fröhlich zu sprechen begann. »Wer hart arbeitet, braucht auch ein vernünftiges Frühstück.« Sie schaufelte Rührei auf eine Scheibe Toast und nahm einen großen Bissen. »Heute Mittag beginnen die Proben. Ich habe überhaupt keine Angst mehr. Ich bin sicher, sie werden mich innerhalb kürzester Zeit mit Lob überschütten. Ich höre schon, wie sie von mir schwärmen. Ihr auch?« Alle lauschten, sogar Kitty.

»Es ist von Filmpreisen die Rede. Von den Golden Globes. Vielleicht sogar vom Oscar …« Mr. Berry hielt die Hand an sein Ohr und grinste.

»Ich weiß, wir haben beide gute Chancen auf eine Nominierung.«

»Es ist immer wieder schön, plötzlich aufzuwachen und einen neuen Blick auf die Dinge zu haben. Die Schwere des Lebens ist fort. Ich fühle mich leicht. Es ist, als wäre ich ein neuer Mann.«

»Jeder sollte so glücklich sein wie wir.«

»Ich kann nicht länger herumsitzen.« Mr. Berry stand auf. »Lass uns den Tag beginnen.«

»Ja, auf geht’s!«

Mrs. Berry folgte ihrem Mann eifrig aus der Küche. Juniper blieb sprachlos allein am Tisch zurück.

Sie hatte keine Ahnung, was sie von all dem halten sollte. Sie wollte ihren Eltern tausend Fragen stellen, sie wollte sie anschreien: Hey, warum erklärt ihr mir nicht, was letzte Nacht passiert ist? Aber sie wusste, sie würde nur ihre Zeit verschwenden. Entweder würden sie einfach alles leugnen, oder sie hatten sich bereits dazu entschlossen, selbst zu glauben, dass nichts geschehen war. Und vielleicht war für die beiden Menschen, die gerade die Küche verlassen hatten, tatsächlich nichts geschehen. Als Juniper mit vor Müdigkeit gerötetem Gesicht und geschwollenen Augen in der Küche saß, wurde ihr plötzlich etwas klar: Sie war die Einzige, die die Dinge wieder in Ordnung bringen konnte.

Sie musste zurück in den Wald gehen und sich den Baum noch einmal vornehmen.

Aber vorher musste sie einen weiteren Tag mit Mrs. Maybellines Unterricht durchstehen.

Es stellte sich heraus, dass für diesen Tag ein Test angesetzt war, was Juniper in all dem Chaos, das plötzlich über ihr Leben hereingebrochen war, völlig vergessen hatte. Doch das machte nichts, denn sie war eine sehr gute Schülerin und hatte bisher noch jede Prüfung glänzend bestanden. Mit dem zweistündigen Test, den sie allein am Küchentisch schrieb, war sie nach etwas mehr als vierzig Minuten fertig. Sie hatte alle Antworten sogar zweimal auf Flüchtigkeitsfehler durchgesehen, aber keine gefunden.

Bisher hatte sie Mrs. Maybelline nicht verraten, wie wenig Zeit sie für die Prüfungen brauchte, sodass sie zwei volle Stunden Ruhe vor ihrer Lehrerin hatte. Mrs. Maybelline setzte ziemlich häufig Tests an, weil sie dann durch das Haus streifen und mit etwas Glück ein paar Einblicke aus erster Hand in das Privatleben ihrer Lieblingsstars bekommen konnte. Juniper vermutete, dass die Lehrerin diesen Job nicht lange behalten würde, aber das war momentan ihre geringste Sorge. Sie wollte endlich hinaus, um den Garten und den dahinterliegenden Wald zu beobachten.

Mit dem Fernglas um den Hals überquerte sie den Rasen bis zu der Stelle, von der aus sie den besten Blick auf den Baum hatte, ohne sich zu weit vom Küchenfenster zu entfernen. In der Hoffnung, irgendetwas zu finden, was sie und Giles übersehen hatten, verbrachte sie eine volle Stunde ihrer Prüfungszeit damit, nach dem fehlenden Schlüssel zu suchen. Doch leider entdeckte sie nichts, solange sie auch Ausschau hielt. Alle Bücher, die sie gelesen hatte, alle Untersuchungen und gewagten Expeditionen, die sie unternommen hatte, erwiesen sich als völlig nutzlos. Giles und sie hatten beinahe jeden Millimeter dieses Baumes abgesucht, und jetzt stand er dort, still und standhaft in der Brise, und gab rein gar nichts preis. Nur der Rabe saß wieder auf seinem Ast.

Juniper richtete das Fernglas auf sein pechschwarzes Gefieder. »Du fliegst nie weit weg, stimmt’s?«, flüsterte sie. »Was hat dieser Baum an sich, dass du immer zu ihm zurückkehrst?«

Manchmal gelangt man zu erstaunlichen Erkenntnissen, wenn man etwas laut ausspricht, selbst wenn man es nur sich selbst gegenüber tut. So erging es Juniper in diesem Moment. Als sie den Baum betrachtete, wurde ihr mit einem Mal klar, dass der Rabe irgendeine Rolle bei dieser mysteriösen Angelegenheit spielen musste. Sie erinnerte sich daran, wie er davongeflogen war, als Dimitri sich genähert hatte, und wie er ihre Eltern letzte Nacht begrüßt hatte. Sie war sich sicher, dass alle anderen Tiere des Waldes den Baum mieden, alle bis auf den Raben. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass es etwas mit dem Raben zu tun haben könnte, ob man den Eingang fand oder nicht. Es musste so sein. Es gab keinen anderen Hinweis. »Zeig mir, wie es geht!«, flüsterte sie.

Jenseits des Gartens, auf seinem Ast, bewegte sich der Kopf des Raben ruckartig in verschiedene Richtungen. Einmal schien er Juniper direkt anzuschauen. Hat er mich gesehen?, überlegte sie. Wie?

Krächzend schlug der Rabe mit den Flügeln, krümmte sich und pickte gegen den Stamm. Einen Moment später hob er ab, flog einen Bogen und verschwand hinter dem Baum.

»Es ist der Rabe«, sagte Juniper ungläubig. »Er ist der Schlüssel!« Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

Später am Nachmittag, als Mrs. Maybelline gerade gegangen war, klopfte es leise an der Hintertür. Die Schule müsste seit ungefähr einer Stunde zu Ende sein, dachte Juniper, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Das ist bestimmt Giles. Sie lief die Treppe hinunter, um ihn zu begrüßen und ihm von ihrer Entdeckung zu erzählen. Doch jemand anderes war vor ihr an der Tür.

»Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, packte Mrs. Berry Giles am Arm und zerrte ihn hinaus auf den Hof, wo sie so laut zu schimpfen begann, dass es alle Angestellten hören konnten. »Wer hat diesen Jungen auf mein Grundstück gelassen? Kümmert sich vielleicht noch irgendjemand um meine Sicherheit? Wofür bezahle ich euch eigentlich?«

Dimitri unterbrach seine Arbeit, als die anderen Angestellten die Flucht ergriffen, und ging mit ausgestreckten Armen und nach oben gerichteten Handflächen auf Mrs. Berry zu. »Nein, Mrs. Berry«, sagte er beruhigend, »Sie haben da was falsch verstanden, er ist …«

»Ich habe etwas falsch verstanden? Ich habe etwas falsch verstanden?! Wie können Sie es wagen? Ich kann Sie jederzeit wieder auf der Straße setzen!« Sie schüttelte Giles, und ihre Fingernägel bohrten sich in seinen Arm. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Leute durch mich und meine Familie ins Rampenlicht gelangen wollen? Sie machen Fotos und verbreiten Lügen über uns! Wir sind ständig in Gefahr!«

Mit vor Schmerzen weichen Knien flehte Giles: »Loslassen, Mrs. Berry, bitte …« Aber Junipers Mutter achtete nicht auf ihn.

»Mom, warte!« Juniper rannte aus dem Haus. Ihr Fernglas, das wie immer um ihren Hals hing, schlug bei jedem Schritt gegen ihre Brust. Sie sah, wie ihrem Freund die Tränen in die Augen stiegen. »Du tust ihm weh!«

»Zurück, Juniper! Das ist gefährlich!« Die gute Laune von heute Morgen war lange verflogen, ein Trugbild, das sich hell gegen die beginnende Abenddämmerung abzeichnete.

»Mom, das ist Giles. Er ist mein Freund.«

»Ein Freund? Gerade du solltest es besser wissen.« Ihr Kopf schoss ärgerlich hin und her. »Er ist neidisch auf uns.«

»Nein, Giles ist nicht so. Ich schwör’s dir!«

Mrs. Berry starrte Giles an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und knirschte mit ihren makellosen Zähnen. »Vielleicht jetzt noch nicht. Aber irgendwann bestimmt.« Sie tastete Giles nach einer Kamera ab und schob ihn zu Juniper hinüber, als sie keine fand. »Und du …«, sie zeigte auf Dimitri. »Mach mit deiner Arbeit weiter. Ich bezahle dich schließlich nicht fürs Herumstehen.«