Juniper beschloss, die gegenüberliegende Tür ebenfalls zu untersuchen.
Die Schnitzereien auf dieser Tür waren noch verwirrender. Sie zeigten ein von vielen Säulen getragenes Gebäude, in das die Sonne schien und acht kleine Schweine in die Flucht schlug. Darunter befand sich ein Tier, das offenbar ein Löwe sein sollte, doch er hatte eine Schlange als Schwanz und aus seinem Rücken ragte der Kopf einer Ziege. Unter dem Tier lag ein Mann. Er schien tot zu sein.
»Eine Chimäre«, flüsterte Juniper. »Ich glaube, das ist griechische Mythologie.«
»Und was ist das?« Giles zeigte auf eine andere Tür, auf der ein Schaf an sechs Ballons gebunden über den Himmel schwebte. Etwas tropfte aus seinem Körper und fiel wie Regen zur Erde, wo es einen See bildete, über den ein vermummter Mann in einem kleinen Boot ruderte. In dem See standen dieselben römischen Ziffern und Symbole wie auf der ersten Tür und wie auf dem Blatt von Junipers Vater.
»Ich weiß es nicht. Lass uns nachsehen, was da drin ist. Mach die Tür auf.«
Giles stemmte sich so kräftig gegen die Tür, dass seine Füße wegrutschten, doch die Tür öffnete sich nur einen winzigen Spalt. »Ich schaff’s nicht«, sagte er. »Sie ist zu schwer.«
Juniper nahm Giles’ Platz ein und drückte mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Nach einiger Anstrengung gab sie allmählich nach. Giles sah verlegen zur Seite. Die Unterseite der Tür schrammte über den Boden, was es noch schwerer machte, sie zu öffnen. Juniper musste eine Pause einlegen, um neue Kraft zu sammeln. Sie starrte auf die schmale Öffnung und fragte sich, wann diese Tür wohl zuletzt geöffnet worden war.
Von innen begann sich etwas zu nähern, etwas, das quälend langsam über den Boden schlurfte. Juniper und Giles waren wie gelähmt vor Angst. Das kratzende Geräusch wurde lauter und ließ ihnen die Haare zu Berge stehen. Dann wurde eine Schale durch den Türspalt geschoben. Bis auf eine Pfütze braunen Wassers war sie leer. Ein langer Holzstock schob sie noch etwas weiter, und Juniper sah, dass etwas von der Mitte des Stockes herabhing. Es war mit einer Schnur festgebunden und nur wenige Zentimeter groß, aber es schien sich zu bewegen und hin und her zu schaukeln. Es schien die Form eines Menschen zu haben. War das möglich? Sie streckte den Arm aus, aber der Stock wurde zurückgezogen und nur die Schale blieb in der Türöffnung zurück.
Juniper und Giles tauschten einen neugierigen und zugleich ängstlichen Blick. Dann hörten sie weitere Geräusche hinter der Tür.
Ein glucksender Laut ertönte, gefolgt von einem feuchten Klatschen, als würde jemand einen Eimer voller Schleim gegen die Wand schütten. Das Klatschen wiederholte sich regelmäßig, aber daneben war noch ein anderes, schlimmeres Geräusch zu hören. Es klang wie die Stimme eines sehr alten, sterbenden Mannes, der gerade seinen letzten Atemzug aushauchte. »Salhack … Salhack … Jup nen skek. Salhack …« Das Unerträglichste von allem war das erstickte: »Biiiitttteeeeee …«
Juniper wollte die Tür gerade weiter öffnen, als dahinter ein gleißend helles Licht aufleuchtete. »Was ist das?« Giles hielt sich die Hand vor die Augen. »Was ist da drin?«
Bevor Juniper antworten oder durch das helle Licht hätte blinzeln können, sauste der Rabe mit einem durchdringenden Schrei an ihnen vorbei durch die Tür. Er flog krächzend und flatternd in den Raum, wo sich nun ein heftiger Tumult erhob. Es waren unverständliche Worte zu hören, ein Schrei, Geräusche wie von einem Todeskampf. Der Rabe flog wieder heraus und hackte mit dem Schnabel nach Juniper und Giles, bis sie in die Mitte der Halle zurückwichen. Die Tür schloss sich von selbst.
Verärgert flog der Rabe durch die Halle davon und wieder zurück. Er wiederholte das einige Male, bis Juniper und Giles ihm gehorsam folgten. Offensichtlich wollte er sie unbedingt irgendwohin führen.
Juniper und Giles folgten ihrem gefiederten Begleiter, bis sie sich einer Art Höhle näherten. Die Fackeln und die sechs Türen verblassten hinter ihnen. Ein neues Licht brannte sanft in dem Raum, der vor ihnen lag.
Eine Stimme ertönte aus der Höhle. Es war die kälteste, absonderlichste und beängstigendste Stimme, die sie jemals gehört hatten.
»Ihr habt mich also gefunden.«
Abgesehen von einem langen Tisch, an dem die vermummte Gestalt mit der unheimlichen Stimme saß, war der von zwei Fackeln beleuchtete Raum völlig kahl. Von der Decke tropfte etwas, das wie Regenwasser aussah, und im flackernden Lichtschein der Fackeln tanzten Schatten an den Wänden. Hin und wieder schienen sie Bilder zu formen, düstere und verstörende Bilder, die schon wieder verschwunden waren, bevor Juniper sich fragen konnte, ob sie sie tatsächlich gesehen hatte. Die Schatten schienen aus einer anderen, verzerrten Welt zu kommen und nur ein Ziel zu haben: sie zu verschlingen.
Hinter dem Raum lag noch eine Halle, die jedoch in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt war.
Als Juniper und Giles die Höhle betraten, erhob sich der Mann. Er war sehr groß, größer als jeder Mensch, den Juniper bisher gesehen hatte. Beinahe alles an ihm war lang: Beine, Arme, Hals und Finger. Er trug einen schäbigen Umhang und sein längliches Gesicht war im Schatten der Kapuze verborgen. Seine knochigen, bleichen Finger umklammerten einen hölzernen Stab, und Juniper sah, dass seine Nägel ebenfalls lang waren und so dunkel, als wären sie nachtschwarz lackiert.
Da sich der Umhang bei jeder Bewegung eng an seinen Körper legte, war nicht zu übersehen, wie dünn er war. Er schien keinerlei Fett und nur wenig Muskeln zu haben, ein dürres, zerbrechliches, in die Länge gezogenes Gerippe. Barfuß – seine Füße waren fast so knochig wie die eines Skeletts – lehnte er auf dem Stab, vornübergebeugt und mit dem ganzen Gewicht auf einem Bein. Man hätte meinen können, er würde jeden Moment zusammenbrechen, wenn seine Bewegungen nicht so schnell und gefährlich wie die einer Schlange gewesen wären.
Der Mann, wenn man ihn denn so nennen konnte, glitt geräuschlos auf die Kinder zu. Sein Gesicht war immer noch verborgen, nur sein Lächeln schimmerte kalt wie das Mondlicht unter der Kapuze hervor. Seine dunkelroten Lippen, die sich über das ganze Gesicht spannten, entblößten eine lange Reihe gelber Zähne und bildeten ein verzerrtes Dreieck des spöttisch lächelnden Grauens. »Ich freue mich, dass ihr gekommen seid!« Seine Stimme war hoch und er kreischte fast.
Juniper wusste nicht, was sie sagen sollte, denn sie fand es keineswegs schön, mit dieser Gestalt in einem Raum zu sein. Am liebsten wäre sie um ihr Leben gerannt, aber ihr war klar, dass sie bleiben musste, wenn sie ihren Eltern helfen wollte. Sie musste mutig sein, auch wenn eine ängstliche Stimme in ihrem Kopf ständig wiederholte: Er hat zu viele Zähne. Er hat zu viele Zähne. Er hat zu viele Zähne.
Der Rabe flog zu dem Mann hinüber und setzte sich auf seine Schulter.
»Mein Name ist Skeksyl. Das ist mein Rabe Neptun. Und du bist …?« Er zeigte auf Juniper.
Sie wollte nicht antworten, doch ihr Name glitt ganz von selbst über ihre Lippen. »Juniper.«
»Ah, natürlich.« Er sah zu seinem Raben. »Neptun erzählt mir schon seit Jahren von dir. Er war sich sicher, dass du mir eines Tages einen Besuch abstatten würdest.« Der Rabe stieß einige krächzende, unverständliche Töne aus und Skeksyl wandte sich wieder an Juniper. »Er ist ein sehr kluger Vogel. Ich vermute, du hast bereits mit ihm kommuniziert, aber wusstest du, dass er tatsächlich sprechen kann? Nur wenige, ganz besondere Menschen können seine Worte hören. Sie sickern in ihren Kopf wie ihre eigenen Gedanken. Was für ein Privileg! Er fand, ihr beide solltet euch kennenlernen. Er hat mir erzählt, dass du ein sehr, sehr interessantes Mädchen bist.«