»Es kann alles sein?«
»Alles.« Skeksyls Lächeln wurde breiter, als er beide Silben des Wortes genüsslich in die Länge zog.
Giles sah hinunter auf seinen Schoß, wo seine Hände ordentlich gefaltet waren. Er hob sie an und sah auf seine Handflächen, seine schmalen Handgelenke und seine dürren Arme. Den Blick immer noch gesenkt, sagte er: »Ich möchte stark sein. Ich möchte nicht mehr herumgestoßen werden. Alle lachen über mich. Die anderen sollen sich nicht mehr über mich lustig machen. Ich will mich gegen sie wehren können.«
»Giles«, sagte Juniper. »Du brauchst das nicht, du …« Doch Neptuns ohrenbetäubendes Kreischen übertönte ihre Worte.
»Ah – Stärke«, sagte Skeksyl. Seine Finger tanzten über den Holztisch. »Juniper, du weißt nicht, welche Qualen dieser Junge durchmacht. Sieh dir nur sein blaues Auge an. Du willst kein Opfer mehr sein, Giles, und das kann ich gut verstehen. Stärke ist eine bewundernswerte Eigenschaft. Kriege werden mit ihrer Hilfe gewonnen, Berge erklommen und Ungeheuer besiegt. Es gibt keine schwachen Helden, nicht wahr?« Er zeigte mit einem Finger auf Giles, der seinen Blick auf das dunkle Loch unter Skeksyls Kapuze richtete, von wo seine Stimme ertönte. »Die Menschen bewundern Stärke. Mädchen bewundern Stärke.«
»Er ist noch jung. Er wird wachsen«, wandte Juniper ein. Doch sie hörte selbst, wie schwach ihre Stimme klang.
»Wachsen? Wann?«, fragte Skeksyl. »Wie schnell? Woher willst du wissen, dass sein Körper ihn nicht im Stich lässt? So etwas sagt sich leicht, wenn man selbst nicht betroffen ist, nicht wahr, Giles? Besonders wenn man ein hübsches Mädchen ist. Du musst mit dieser Bürde leben, nicht sie. Sieh dich an. Klein und schwach. Täglich verspottet. Ich kann das alles ändern. Und ich kann es jetzt tun.«
»Bitte«, murmelte Giles. Er sah zu Skeksyl, zu den Schatten an der Wand – überallhin, nur nicht zu Juniper.
»Gewiss, mein Junge.« Skeksyl klatschte in die Hände, und Juniper war überrascht, dass sie kein Echo hörte. Hier unten starb jeder Laut außer seiner seltsamen Stimme einen schnellen Tod. Er nahm zwei der Ballons mit seinen dunklen und scharfen Fingernägeln, einen roten und einen blauen, und legte sie vor Giles auf den Tisch. »Welchen möchtest du?«
Schüchtern zeigte Giles auf den blauen Ballon.
»Natürlich. Blau ist deine Lieblingsfarbe, stimmt’s?« Giles nickte. »Das habe ich mir gedacht.«
Skeksyl zog einen Federkiel aus seinem Umhang. Er war schwarz und sah aus, als hätte er dafür seinem Haustier, dem Raben, eine Feder ausgerupft. Er drehte ihn zwischen zwei Fingern, rollte ihn hin und her und fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen. In perfekter Schönschrift schrieb er das Wort Stärke auf den blauen Ballon. Er legte die Feder zur Seite, nahm den Ballon an die Lippen, blies ihn auf, machte einen Knoten hinein und band ihn an eine Schnur, alles in Sekundenschnelle und mit unglaublicher Leichtigkeit. Als er fertig war, nahm er die Feder und hielt sie Giles hin. Seine Hand zitterte, genauso wie Skeksyls.
»Alles, was du tun musst, ist, deinen Namen auf meinen Ballon zu schreiben. Unterschreibe auf dem roten Ballon und blas ihn mit der frischen, jungen Luft aus deinen Lungen auf«, kreischte Skeksyl mit seiner verzerrten, leiernden Stimme.
»Mehr nicht? Das ist alles?«
»Das ist alles.«
Giles zögerte nur einen winzigen Moment. Dann riss er die Feder aus Skeksyls bebender Hand und setzte seinen Namen in krakeligen Buchstaben auf den Ballon.
»Und jetzt blas ihn auf«, wiederholte Skeksyl. »So groß, wie es geht.«
Giles nahm den roten Ballon und sah endlich zu Juniper.
»Du musst das nicht tun«, formte sie unhörbar mit den Lippen.
Er warf ihr einen flehenden Blick zu, dann führte er den Ballon an die Lippen. Juniper wandte sich ab und schloss die Augen.
Mit ein paar tiefen Atemzügen war der Ballon gefüllt.
Skeksyl griff sofort danach. Er knotete ihn zu, befestigte die Schnur, wickelte sie sich mehrmals um seine abgemagerte Hand und hielt sie so fest, als könnte der Ballon jederzeit von einem heftigen Sturm davongeweht werden.
Ein breites, grausames Lächeln leuchtete unter seiner Kapuze hervor. Seine Brust hob und senkte sich schnell, er keuchte fast. »Jetzt hör mir sehr gut zu. Wenn du zu Hause bist, löst du den Knoten. Lass nichts heraus, bevor du den Ballon vorsichtig an deine Lippen geführt hast. Du musst die ganze Luft einatmen, sonst funktioniert es nicht. Hast du verstanden?«
Giles nickte.
»Gut. Sehr gut. Bald wird dir die Welt zu Füßen liegen. Wann immer dir etwas Sorgen bereitet oder nicht so läuft, wie es sollte, bleib ganz ruhig. Keine Panik! Jedes Hindernis lässt sich überwinden. Nichts leichter als das.«
Langsam richtete er seine Aufmerksamkeit auf Juniper. »Und jetzt zu dir, Juniper. Was könnte dir gefallen, hm? Ich habe schon Schauspieler und Tänzer erschaffen, Politiker und Spitzensportler, Wissenschaftler und Philosophen. Was willst du? Wonach sehnt sich deine Seele?«
»Ich bin glücklich, so wie ich bin.«
Skeksyls Lachen klang wie der Schrei einer Todesfee. »Wie edel, in der Tat! Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der mit dem zufrieden war, was er hatte. Selbst die Menschen, die am meisten verehrt und umschwärmt werden, haben noch Wünsche. Wenn du älter wirst, wirst du sehen, wie schnell die Welt einen fallen lässt. Sie kann dir ohne Weiteres einen Schlag verpassen, der dich zu Boden wirft. Sie kann grausam sein. Es gibt keinen leichten Weg durchs Leben. Keinen einzigen. Mit einer Ausnahme …«
Die Schatten malten Bilder an die Wände und Juniper starrte sie an. Ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf, dieselbe Szene, die sie gerade in dem leeren Raum gesehen hatte. Sie war mit ihren Eltern zusammen und sie waren glücklich. Sie lachten gemeinsam, so wie die Familie, die sie früher gewesen waren. Plötzlich hatte sie einen dicken Kloß im Hals.
Juniper wandte den Blick ab und presste die Hände zusammen. »Es ist … es ist etwas ganz anderes als Giles’ Wunsch.«
»Das macht nichts. Du und Giles, ihr seid verschieden. Der Traum eines jeden Menschen ist sein eigenes, wunderbares Universum. Träume können wahr werden, aber nur für die Menschen, die wissen, wie man sie in Besitz nimmt. Darum passiert es so selten. Die meisten schaffen es nicht ohne Hilfe, sie brauchen ein wenig Unterstützung und Führung. Ich kann dir zeigen, wie es geht.«
Juniper wusste, dass es besser wäre, den Mund zu halten, aber die Versuchung hatte sich bereits eingeschlichen. Vielleicht würden ihre Eltern nie wieder die Menschen sein, an die sie sich erinnerte. Am Ende würde vielleicht nicht einmal ihr eigenes Leben so werden, wie sie es sich vorstellte. Sie war gerade elf Jahre alt, und schon jetzt lief nichts so, wie sie es sich wünschte. Keine Freunde, keine Familie. Sie wollte ihre Geschichten mit jemandem teilen. Sie wollte so fühlen, wie sie glaubte, dass ein Kind fühlen sollte. Nichts davon war bisher passiert, und woher sollte sie wissen, dass sich das jemals ändern würde?