Doch Skeksyls Versprechen, das war etwas Greifbares. Es war zu spät, um die Vergangenheit zu ändern, aber ihre Zukunft war ein unbeschriebenes Blatt. Es gab immer noch eine Chance, ihre Familie wieder zusammenzubringen. Sie wieder so werden zu lassen wie damals, als sie ihre Stücke aufgeführt hatten. Vielleicht war das jetzt diese Chance.
Also sagte sie: »Ich möchte Schriftstellerin werden.«
Skeksyl sprang auf. »Du wirst auf der ganzen Welt gelesen werden! Die Menschen werden deine Worte auswendig lernen und Kraft aus ihnen schöpfen! Dein Name wird unsterblich sein! Mein liebes Kind, du wirst die Welten, die Giles besucht, genauso klar und deutlich sehen wie er. Sie werden in deinem Kopf entstehen. Du wirst dieses eingeschlossene Universum zum Leben erwecken. Und, anders als bei Giles, können wir bei dir in jungen Jahren anfangen. Heute noch! Du könntest die jüngste Autorin werden, die je ein Drehbuch geschrieben hat, dein Name weithin sichtbar in Leuchtbuchstaben. Das können deine Eltern doch nicht ignorieren, oder?«
Die Schatten tanzten jetzt noch wilder. Skeksyl sah ihnen eine Weile zu. Als er sich wieder an Juniper wandte, lächelte er verständnisvoll. »Ein Familienunternehmen also. Du schreibst die Rollen für deine Mutter und deinen Vater, dann sind ihre nächsten Filmpreise dein Verdienst. Wie stolz deine Eltern auf dich sein werden! Eine echte Familie, unzertrennlich. Sie werden zu dir zurückkehren, weil du endlich so bist, wie sie dich immer haben wollten. Bald werden dich Menschen auf der ganzen Welt für das lieben, was du ihnen gibst. Und mit dieser Fähigkeit kannst du das Leben leben, das du begehrst. Du willst Schriftstellerin werden? Mit meiner Hilfe wirst du die größte Schriftstellerin, die je gelebt hat.«
Jetzt kannte Juniper die Wahrheit. Skeksyl gab ihren Eltern genau das, was sie wollten. Er erfüllte ihnen all ihre Träume. Juniper wusste, dass es für die beiden keinen Weg zurück gab. Aber nun hatte sie die Möglichkeit, Teil ihrer Welt zu werden, das Leben ihrer Eltern zu teilen.
Doch war das der Grund gewesen, weshalb sie hergekommen war? Sie konnte sich kaum noch daran erinnern.
Skeksyl legte seine Hände übereinander, als wollte er ihr Zittern unterdrücken. »Sind wir uns einig? Ist es das, was du willst? Sag es mir und ich werde es wahr werden lassen.«
Die Versuchung war groß. Es war alles, was sie immer gewollt hatte. Sie könnte wieder zu ihren Eltern gehören, und ihre Wünsche würden erfüllt werden, solange ihr nicht der Atem ausging. Plötzlich sah sie alles genau vor sich, all ihre Träume, alles, was sie sich je wünschen könnte, in einem einzigen Ballon.
Aber wenn ihre Eltern den Handel eingegangen waren, warum schienen sie dann nicht glücklich zu sein? Oder waren sie doch glücklich und empfanden das Glück nur anders als sie? So wie das Glück, das sie in dem Raum gespürt hatte, als sie zwischen den Sternen entlanggeflogen war? War es nicht egal, ob die Sterne echt waren oder nicht? Wenn sie ihr Fernglas nicht dabeigehabt hätte, hätte sie gar nicht gemerkt, dass Giles und sie nicht wirklich im Weltraum gewesen waren. Sie hätte daran glauben können, oder nicht? Was war echt? Was war die Wahrheit, was war Glück? Sie war sich nicht mehr sicher. Konnte es für jeden Menschen etwas anderes sein?
Juniper sah zu dem blauen Ballon, den Giles so verzweifelt festhielt. Was befand sich darin? Was schwebte in dieser magischen Luft? Sie hatte gesehen, was passiert war, als ihre Eltern die Luft eingeatmet hatten, und das machte ihr Angst. Sie dachte daran, dass sie zu dem Baum zurückgekehrt waren, um noch mehr davon zu bekommen. Es bewirkte etwas bei ihnen, etwas Schreckliches. Das war echt, das war die Wahrheit.
»Nein«, sagte sie bestimmt.
»Nein? Was soll das heißen? Ich biete dir die Zukunft deiner Träume! Weißt du eigentlich, wie viele Menschen alles dafür tun würden, in diesem Moment an deiner Stelle zu sein?« Skeksyls Hände begannen wieder zu zittern.
»Ich habe Nein gesagt.« Junipers Stimme klang fest, aber innerlich begann sie zu zweifeln. Gab sie ihre Eltern auf? Dieser Gedanke erschreckte sie.
Skeksyl lehnte sich zurück und beruhigte sich wieder. »Ich verstehe. Du bist nicht überzeugt. Noch nicht. Wie wär’s mit einem weiteren Abenteuer im Raum der Träume, hm? Er kann dir alles zeigen!«
»Das würde nichts ändern.« Juniper schüttelte den Kopf und sah auf ihr Fernglas herab. Wenn ich hindurchsehe, sehe ich die Wahrheit. Das hatte sie Giles erzählt und sie glaubte fest daran. Sie wusste, dass sie nur einen leeren Raum sehen würde, wenn sie dorthin zurückkehrte.
Skeksyl folgte ihrem Blick. Wie ein Blitz zuckte sein Stock durch die Luft, glitt unter die Schnur und hob das Fernglas von Junipers Hals. Die Schnur rutschte am Stock entlang und das Fernglas landete in seiner geöffneten Hand. »Oh, Juniper, glaubst du wirklich, das ist die Antwort?« Er hielt das Fernglas hoch. »Denkst du, wenn du hier durchsiehst, erfährst du alles, was du über das Leben und die Menschen wissen musst? Die einzige Wahrheit ist die, die wir uns erschaffen. Alles andere ist ein Traum. Du kannst die Dinge analysieren und erforschen, solange du möchtest. Doch das bringt dich nicht weiter. Du wirst nicht dazugehören. Wach auf, Juniper! Die Tatsachen sind Fiktion, die Wahrheit ist Fantasie. Du glaubst, das Fernglas bringt dir die Welt näher? Du dummes Mädchen! Es macht dich zum Außenseiter. Du beobachtest die Welt aus sicherer Entfernung wie ein Zuschauer, und solange du sie beobachtest, wirst du niemals ein Teil von ihr sein. Versuche nicht länger, in allen Dingen einen Sinn zu finden. Es zählt nicht das, was tief in dir verborgen ist, sondern das, was du der Welt zeigst. Die Welt will getäuscht werden, verstehst du? Zeig es ihr! Sei laut! Streck die Brust raus! Gib den Menschen, was sie wollen, Juniper. Sie werden begeistert sein von der Show, die du ihnen bietest. Es ist nichts unter der Oberfläche verborgen, nichts versteckt oder außer Sichtweite. Alles, was du wissen musst, befindet sich direkt vor deiner Nase. Was gibt es zu verstehen, abgesehen davon, wie viele Dinge dir fehlen? Das ist alles, was dir dieses Gerät zeigen kann. Mehr nicht.« Er hielt das Fernglas hoch. »Das ist deine Schwäche!« Er gab Juniper das Fernglas zurück und plötzlich sah es lächerlich in ihren Händen aus.
»Ihr werdet wiederkommen, alle beide, da bin ich sicher.« Er lächelte erst Juniper, dann Giles zu. »Kommt, wann immer ihr wollt. Ihr seid jederzeit willkommen. Und von welchem Ort könnt ihr das sonst noch sagen?«
Er scheuchte sie mit einer Handbewegung zurück in die Halle. »Und jetzt geht, ich werde auf euch warten.«
Er verließ den Raum, und die undurchdringliche Dunkelheit verschlang ihn fast augenblicklich. Der leuchtend rote Ballon, den er in der Hand hielt, war das Letzte, was sie von ihm sahen.
»Wenn wir schon Geschichte wiederholen müssen, können wir wenigstens Spaß dabei haben«, sagte Mrs. Maybelline.
»Spaß?«, fragte Juniper mit belegter Stimme. Sie konnte dem Unterricht an diesem Tag nicht richtig folgen, weil sie ständig an Giles denken musste. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie vor vier Tagen aus dem Loch unter dem Baum geklettert waren, und sie vermisste ihn furchtbar. Stundenlang hatte sie draußen mit ausgefahrenem Monokular gestanden und in der Ferne nach ihrem Freund gesucht. Aber er war nicht gekommen.
»Ja, Spaß!«, rief Mrs. Maybelline. Ihr Bauch wölbte sich über die Tischkante und ihre wulstige Hand öffnete Junipers Laptop. Sie drückte mit ihrem dicken Zeigefinger die Einschalt-Taste und summte mit dem Laptop im Duett. Auf ihren Lippen blieb ein bisschen Spucke zurück, und ihre Zungenspitze schoss hervor, um sie abzulecken. Ihr Körper schaukelte erwartungsvoll vor und zurück, als der meerblaue Hintergrund erschien und gleich darauf mehrere Dialogfenster mit Warnhinweisen und Fehlermeldungen auftauchten. Begeistert klatschte sie in die Hände. »Öffne das neue Programm, das ich heruntergeladen habe. Beeil dich, es ist einfach fabelhaft!«