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Juniper gehorchte, auch wenn sie mit den Gedanken woanders war. Sie schloss die Fenster auf dem Bildschirm und klickte auf das neue, gepunktete Symbol. Kurz darauf öffnete sich das Programm »So macht Geschichte Spaß« unter lautem Fanfaren-Klang.

Thomas Jefferson erschien als Zeichentrickfigur auf dem Bildschirm und tanzte von einer Ecke in die andere, hüpfte von den Bildschirmrändern und schüttelte wie wild Arme und Beine, während sich sein Kiefer beim Sprechen auf und ab bewegte. »Wir zeigen dir, wie es damals wirklich war … so macht Geschichte Spaß!«

»Siehst du?« Mrs. Maybelline kicherte und stieß Juniper mit ihrem fleischigen Ellbogen an. »Ist das nicht lustig? Am liebsten würdest du sofort mit ihm in die Vergangenheit reisen, stimmt’s? Spaß, Spaß, Spaß!«

»Spaß«, wiederholte Juniper monoton. Sie war mit ihren Gedanken tausend Kilometer weit weg oder, um genau zu sein, im Wald hinter dem Haus, der in diesem Moment aber mindestens genauso weit entfernt zu sein schien. Zum hundertsten Mal, seit sie und Giles die Unterwelt verlassen hatten, rief sich Juniper den stillen Rückweg an jenem Tag ins Gedächtnis.

Das Loch unter dem Baum hatte sich geschlossen und die Gedanken waren nur so durch Junipers Kopf gewirbelt. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Hätte ich den Ballon annehmen sollen?«, fragte sie Giles. Aber er hörte gar nicht zu. Er hatte seinen Ballon, der an der Schnur schwebte, heruntergezogen und hielt ihn sich direkt vor die Augen. Fasziniert starrte er hinein, als wäre es eine Kristallkugel.

Juniper betrachtete das Gesicht ihres Freundes, das durch den aufgeblasenen Ballon hindurch ganz verzerrt aussah. »Giles …«

»Ich kann nicht länger warten. Ich will ihn jetzt öffnen. Bist du so weit?«, fragte er. Seine Hände schienen es kaum erwarten zu können, das Band zu lösen.

Juniper schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht zusehen. Nicht noch einmal.« Ihre Augen suchten den Wald ab. »Ich bin gleich dort drüben.« Sie zeigte auf einen großen Baum, hinter dem sie sich problemlos verstecken konnte. »Warte, bis ich nicht mehr zu sehen bin.«

Seine Aufregung wurde ein wenig gedämpft, aber nur kurz. »Okay, okay.«

»Bring’s hinter dich!«, rief sie, als sie sich hinter dem Baum in Sicherheit gebracht hatte.

Er verschwendete keine Zeit.

Juniper hörte Gummi quietschen, Giles’ tiefe Atemzüge und die Luft, die durch seine Kehle rauschte. Sie hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Aber sosehr sie die Hände auch auf ihre Ohren presste, sie konnte das grauenvolle Heulen ihrer Mutter immer noch hören. Selbst mit fest verschlossenen Augen und Ohren, in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt, sah sie die grausig verzerrten Gesichter ihrer Eltern vor sich, die den Ballons nicht hatten widerstehen können. Es gab kein Entrinnen.

Und jetzt Giles …

Eine Hand griff ein wenig zu fest nach ihrem Arm, direkt über dem Ellbogen, und sie riss die Augen auf. Giles sah sie mit einem strahlenden Lächeln an.

Juniper nahm langsam die Hände von den Ohren. Sie betrachtete ihn misstrauisch.

»Es … es hat nicht irgendwas mit dir gemacht? Mit deinem Körper?« Sie dachte an ihren Vater, der mit zuckenden Gliedern am Esstisch zusammengesackt war.

»Und ob – ich fühle mich großartig!« Giles sah auch großartig aus, genau wie ihre Eltern an diesem Morgen. »Im Ernst, June. Du hättest es auch versuchen sollen.«

Juniper öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er falschlag, doch plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob das wirklich stimmte.

Wenig später machte sich Giles auf den Heimweg. Obwohl es noch nicht sehr spät war, verabschiedete er sich hastig und lief so schnell nach Hause, dass Juniper fürchtete, beim nächsten Wettrennen nicht mehr mit ihm mithalten zu können.

»Hör auf zu träumen!«, wies Mrs. Maybelline Juniper zurecht und zeigte auf den Bildschirm. »Hier spielt die Musik! Klick auf das Symbol für die Industrielle Revolution, dann geht es sofort los. Das Programm zeigt dir im Schnelldurchlauf alle spannenden und wichtigen Dinge. Am Ende gibt es Spiele für jede Epoche. Ist das nicht toll? Mach schon, fang an!«

Juniper gehorchte und versuchte, ihre Gedanken daran zu hindern, wieder abzuschweifen. Sie hatte Angst davor, wo sie sie hinführen könnten.

»Damals hätte man Amerikaner sein müssen«, schwärmte Mrs. Maybelline. »Was für eine herrliche Zeit! Du wirst sehen, es ist, als wärst du tatsächlich dort. Wenn das Programm zu Ende ist, weißt du alles, was du wissen musst. Ich habe sogar ein paar Dinge gelernt, von denen ich vorher keine Ahnung hatte. Wer weiß schon, was eine Entkörnungsmaschine für Baumwolle ist? Jaja, die Technik! Ich sag’s dir, Juniper, schnell und einfach, so muss der Unterricht heutzutage sein. Du wirst nicht einmal merken, dass du etwas lernst! Ich gehe in der Zwischenzeit schnell zur Toilette. Außerdem muss ich ein paar Telefonanrufe erledigen …« Mrs. Maybelline redete weiter, während sie das Zimmer verließ, bis Juniper erleichtert feststellte, dass sie ihre Stimme nicht mehr hören konnte.

Als sie allein war, klickte sie mit der Maus auf das Symbol. Der Bildschirm leuchtete auf und eine heitere, freundliche Version der Welt von vor hundert Jahren erschien in pixeliger Perfektion. Die Hintergrundmusik ging in friedlichen Vogelgesang über, und die Sonne schien auf eine Reihe von makellosen Fabriken, die in einer beängstigenden Geschwindigkeit gebaut wurden. Thomas Jefferson lief gut gelaunt durch die Straßen und erklärte der übernächtigten Juniper in albernen Versen, was es mit dieser Epoche der amerikanischen Geschichte auf sich hatte.

Juniper merkte schnell, dass ihr »So macht Geschichte Spaß« kein bisschen Spaß machte. Sie konnte das, was sie sah und hörte, einfach nicht zuordnen. Alles, was auf dem Bildschirm erschien, war völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Einzelheiten wurden beschönigt oder übersprungen, Daten und Definitionen waren wichtiger als Ereignisse und Inhalte. Es gab kein Wie oder Warum und die Spiele hatten nichts mit der jeweiligen Epoche zu tun. (Warum sollte ein Ego-Shooter-Spiel lehrreich sein, bloß weil man eine Muskete abfeuerte?)

Die Menschen in der Stadt waren als fröhliche Faulenzer dargestellt, während die Kinder glänzende Münzen von der Arbeit nach Hause brachten und in riesigen, komfortablen Häusern lebten. Das Land wuchs in einer verblüffenden Geschwindigkeit, die neuen Technologien verbreiteten sich überall und brachten den Menschen Frieden und Liebe. Alles war so sauber und einfach und perfekt. Am Ende behauptete ihr gut gelaunter Führer, die Industrielle Revolution habe ihr Land groß gemacht, doch Juniper hatte keine Ahnung, wie.

Etwas fehlte, und Juniper wollte wissen, was.

Sie ließ das Programm durchlaufen, merkte sich, was sie interessant oder wichtig fand, und beschloss wie üblich, ins Arbeitszimmer ihres Vaters zu gehen, sobald Mrs. Maybellines Unterricht zu Ende war, sich ein paar Bücher zu dem Thema herauszusuchen und sich auf eigene Faust weiterzubilden. Solange sie sich mit der Industriellen Revolution beschäftigte, musste sie wenigstens nicht an ihre Eltern, Giles, den Baum oder die Ballons denken. Sie konnte sich in ihren Büchern und in der Welt, die sie durch ihre Ferngläser sah, verlieren.

Aber machte sie es sich selbst nicht unnötig schwer? Was hatten ihre Anstrengungen ihr bisher gebracht? Vielleicht sollte sie sich einfach mit dem zufriedengeben, was der Computer erzählte. Skeksyls Worte hallten immer noch in ihrem Kopf nach. Vielleicht verschwendete sie wirklich ihre Zeit mit ihren Büchern, den Ferngläsern und der Wahrheitssuche. Es gab wesentlich leichtere Wege, um ans Ziel zu gelangen. Je länger sie darüber nachdachte, desto fester verankerten sich Skeksyls Worte in ihrem Kopf.

Sie ging an diesem Tag nicht mehr ins Arbeitszimmer ihres Vaters, dafür stieß sie auf etwas anderes.