Nachdem Mrs. Maybelline fort war, kehrte Juniper in ihr Zimmer zurück. Als sie an einem der in der Villa zahlreich vorhandenen Badezimmer vorbeikam (tatsächlich gab es neun), hörte sie die Stimme ihres Vaters, die durch die geöffnete Tür auf den Flur drang.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er. Früher hatte er dort manchmal seinen Text gelernt. Juniper schlich sich heran, um besser sehen zu können. Sie presste den Rücken gegen die Wand und schob sich leise näher, bis sie sein Gesicht im Badezimmerspiegel sehen konnte. Er starrte mit weit geöffnetem Mund in den Spiegel. Er hatte die Zunge herausgestreckt und ließ sie hin und her wackeln, während er seinen Kiefer mit der Hand abwechselnd nach rechts und links schob. Offenbar versuchte er, einen Blick in seinen Rachen zu werfen. Er bewegte den Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen, um besser sehen zu können. Um was sehen zu können?
Frustriert schlug er gegen das Waschbecken und beugte sich vor, riss die Augen auf und weitete die Lider mit seinen Fingern, erst rechts, dann links. Er sah tief in jedes Auge, auf der Suche nach was auch immer.
»Ich verstehe das nicht«, wiederholte er. »Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das nicht.« Dann wurden die Worte schneller. »Ichverstehdasnichtichverstehdasnichtichverstehdasnicht …«
Juniper trat in den Türrahmen. »Dad? Lernst du Text? Du lernst gerade deinen Text, oder?«
Mr. Berry fuhr herum und sah sie an. Nein, er sah durch sie hindurch – sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. Ohne ein Wort zu sagen, streckte er den Arm aus und schloss langsam die Tür.
So weit ist es also inzwischen gekommen, dachte Juniper. Überall geschlossene Türen.
Wie aufs Stichwort knallte die Haustür zu. Dieses Geräusch kündigte üblicherweise Mrs. Berrys Ankunft an, und Juniper lief die Treppe hinunter in die Halle, wo ihre Mutter gerade ihre Jacke auf eine lange Holzbank warf.
»Mom!«
»Nicht jetzt.« Ohne sie eines Blickes zu würdigen, strich Mrs. Berry Juniper im Vorbeigehen über die Wange. Als sie die Treppe hinaufstieg, sagte sie: »Ich habe gerade mit meinem Agenten gesprochen. Er möchte, dass dein Vater und ich in unserem nächsten Film gemeinsam die Hauptrollen übernehmen. Das Publikum verlangt danach. Er hat einen Stapel Drehbücher für uns, die wir durchgehen sollen. Aber wir dürfen jetzt keinen Fehler machen, das Material muss perfekt und absolut überzeugend sein. Also lass uns jetzt in Ruhe. Wir möchten nicht gestört werden.«
Mit Tränen in den Augen starrte Juniper auf den Rücken ihrer Mutter. Ihre Brust hob und senkte sich, während sie verzweifelt überlegte, was sie sagen sollte. »Ich hab auch ein Drehbuch geschrieben!«, rief sie schließlich mit flehender Stimme. »Es ist perfekt für dich und Dad, ich weiß es einfach! Wirst du es dir anschauen?«
Mrs. Berry ging einfach weiter die Treppe hinauf, sie drehte sich nicht einmal um.
Juniper rannte hinterher. »Mom! Mom, bitte!«
Mrs. Berry blieb auf der obersten Stufe stehen, schloss die Augen und hielt ihre Hände an die Schläfen. »Juniper …« Sie schwankte vor und zurück. Das Krächzen des Raben drang durch ein geöffnetes Fenster ins Haus. »Juniper, verschwende nicht unsere Zeit.«
Als sie ihre Mutter davongehen sah, hörte Juniper wieder und wieder Skeksyls Angebot in ihrem Kopf, und seine Stimme wurde von Mal zu Mal lauter. Sie sah ihren eigenen Ballon, der nur darauf wartete, aufgeblasen zu werden. Sie musste lediglich ihren Namen draufschreiben und Skeksyl etwas von ihrem Atem geben.
Ohne es richtig zu merken, war sie nach unten gelaufen, aus der Hintertür hinaus und in den Wald hinein. Der Baum, der Rabe und alles, wofür sie standen, waren in Sichtweite, nur wenige Schritte entfernt.
»Du schaffst das!«, flüsterte sie. Aber sie wusste, dass sie es nicht allein tun konnte.
Sie musste mit Giles reden.
Sie lief bis zum Ende des Grundstücks, zur westlichen Grenze. Sie hatte sie noch nie übertreten, geschweige denn daran gedacht, es zu versuchen, da sie nicht das Risiko eingehen wollte, hart bestraft und noch strenger bewacht zu werden.
Sie machte einen Schritt über die Grenze, dann noch einen. Sie wartete. Doch ihre Eltern kamen nicht schreiend aus dem Haus gerannt, kein Wachmann stürzte sich auf sie, genauso wenig wie jemand vom restlichen Personal. Niemand kümmerte sich um sie. Also ging sie einfach weiter. So lange, bis sie nach ungefähr einem Kilometer das Haus ihrer nächsten Nachbarn erreichte.
Das Haus war genauso riesig wie ihr eigenes und auf der Vorderseite schienen sich die gleichen tumultartigen Szenen abzuspielen. Junipers erster Gedanke war, dass sich vor dem Tor ebenfalls lauter Fans versammelt haben mussten, die es auf Autogramme und Fotos abgesehen hatten. Dann überlegte sie, ob sie sich vielleicht eine Weile unter die Leute mischen sollte, um zu schauen, wie es sich anfühlte. Sie wollte ihre Welt von außen betrachten. Vielleicht würde aus dieser Perspektive alles gar nicht so schlimm aussehen, vielleicht würde alles einen Sinn ergeben. Schließlich kam ihr ein noch düsterer Gedanke, eine Idee, von der sie nie gedacht hätte, dass sie sie eines Tages in Erwägung ziehen würde. Was, wenn sie einfach alles hinter sich lassen und als ein anderer Mensch durch dieses Tor hinausgehen würde? Vielleicht könnte sie ihr Aussehen, ihr Verhalten und ihren Namen ändern, sich selbst neu erfinden, sodass sich alles, was sie vorher gewesen war, einfach in Luft auflöste. Ihren Eltern war sie sowieso egal, sie würden sie bestimmt nicht vermissen. Sie könnte Freunde finden und noch einmal ganz von vorne anfangen.
Sie ging um das Haus herum und sah tatsächlich eine Menschenmenge. Aber es waren keine Fans, sondern ein Haufen Kinder in ihrem Alter, die sich in einem Kreis versammelt hatten. Was machten sie da? Ein Spiel, dachte Juniper. Sie spielen ein Spiel! Sie rannte auf die Kinder zu, und kein Tor sperrte sie ein oder aus, keine Eltern riefen sie zurück.
Die Kinder standen eng beieinander, und Juniper musste ein bisschen drängeln, um etwas sehen zu können. Jetzt könnte ich mein Periskop gut gebrauchen, dachte sie und bedauerte, die Nachbildung eines Original-Sehrohrs aus dem Ersten Weltkrieg zu Hause im Schrank gelassen zu haben. Doch als sie genauer darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass es sie nur davon abgehalten hätte, sich der Gruppe zu nähern. Jetzt hatte sie die Chance, all diese Jungen und Mädchen kennenzulernen, die in einem anderen Leben ihre Freunde hätten sein können. Sie konnte ihre Witze hören und in ihr Lachen einstimmen. Sie konnte all das tun, was ein normales Mädchen bestimmt tat: den neuesten Klatsch und Tratsch weiterverbreiten, sich Modetipps geben lassen. Sie stand inmitten dieser Kinder und konnte kaum glauben, wie wunderbar es sich anfühlte.
Doch als sie sich ganz nach vorn geschoben hatte, sah sie, was sich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit befand. Im Kreis standen zwei Jungen mit erhobenen Fäusten. Eines der Kinder begann rhythmisch zu rufen und die anderen fielen ein: »Kämpft! Kämpft! Kämpft!« Fäuste reckten sich im Takt in die Luft, es wurde mit den Füßen gestampft. Sogar die Mädchen forderten grölend den Beginn des Kampfes. Juniper suchte die Menge nach Giles ab, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Das wunderte sie auch nicht weiter, denn er würde sich bestimmt nicht in der Nähe einer solchen rasenden Horde aufhalten.
Der Kampf interessierte Juniper nicht im Geringsten, und er war vorbei, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Überraschenderweise lag der größere der beiden Jungen auf dem Boden und hielt sich seine blutende Nase.
Der kleinere Junge reckte triumphierend die Arme in die Luft, und die Menge brüllte: »Giles! Giles! Giles!«
Juniper starrte in die Mitte des Kreises. Sie konnte es nicht glauben. Der kleinere Junge war Giles! Alles in ihr sehnte sich danach, zwischen den Kindern hindurchzulaufen und ihn mit einer Umarmung zu begrüßen, doch als Juniper genauer hinsah, zögerte sie. Sie wusste sofort, dass etwas anders war.