Giles strahlte über das ganze Gesicht und ließ dabei seine Zähne aufblitzen. Die dichten Haare, die unordentlich von seinem Kopf abgestanden hatten, waren säuberlich abrasiert worden, sodass nur dunkle Stoppeln und eine dünne Narbe am Hinterkopf zurückgeblieben waren. Seine Kleider saßen besser und seine Schuhe glänzten. Anders als bei ihrem ersten Treffen stand er jetzt kerzengerade, hatte den Kopf herausfordernd in die Höhe gereckt und blickte selbstsicher in die Runde. Juniper bemerkte seine leeren Augen. Sie sehen schon ein bisschen aus wie Moms Augen, dachte sie. Und wie Dads.
Ungläubig wich Juniper zurück und versteckte sich am Rand der Gruppe. Sie beobachtete, wie die anderen Kindern Giles umringten und ihm zu seinem Sieg gratulierten. Zwei Mädchen strichen ihm mit den Händen über den kahl geschorenen Kopf. Alle jubelten ihm zu und wollten mit ihm reden. Die Gruppe bestand aus denselben Kindern, die ihn immer gequält hatten, doch jetzt war er ihr Held, und Giles genoss jede einzelne Sekunde.
Es hat funktioniert, dachte Juniper. Der Ballon hat ihm gegeben, was er wollte.
Aber warum konnte sie sich dann nicht für ihn freuen? War sie eifersüchtig? Brauchte er sie jetzt nicht mehr? Hatte er nun das Leben, das er sich immer gewünscht hatte, alles, was ihr versagt worden war? Es war nicht fair.
Schließlich bemerkte Giles sie. Sie war die Einzige, die in der wimmelnden Masse hüpfender, jubelnder und lachender Kinder wie erstarrt dastand. Giles sah Juniper an, sah wieder weg und sah sie wieder an. Er lächelte ihr kurz zu, blieb aber, wo er war. Juniper drängelte sich zu ihm durch.
Giles schien nervös zu sein, vielleicht sogar ein bisschen verlegen. Er machte einen kleinen Schritt zurück. Als sie ihn fast erreicht hatte, rief er »Hey, June!« und zog sie zur Seite, weg von den anderen Kindern.
»Du wirst es nicht glauben, June!«, sagte er hastig und mit gedämpfter Stimme. »Ich hab mich gewehrt. Ich hab mich nicht von ihm herumschubsen lassen, darum hat er mich zum Kampf herausgefordert. Ich wollte nicht, aber die ganze Klasse ist ihm nach der Schule hierher gefolgt.«
Juniper verschränkte die Arme vor der Brust. »Und darum musstest du mit ihm kämpfen?«
»Jetzt ist alles anders. Hast du gesehen, was gerade passiert ist? Niemand wird mehr versuchen, mich zu ärgern.« Er sah sich schnell um, um sicherzugehen, dass keiner zuhörte. »Sie reden auf einmal mit mir, als wären wir Freunde. Auch die Mädchen. Ich habe heute in der Sportstunde die meisten Liegestütze und die meisten Klimmzüge geschafft. Ich wurde sogar in die Fußballmannschaft gewählt. Ich gehöre jetzt dazu. Sieh sie dir an. Kannst du das glauben? Kannst du’s?«
Juniper runzelte verwirrt die Stirn. »Sie mögen dich, weil du jemanden verletzt hast?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ist mir auch egal.«
Er sah die ganze Zeit zu den anderen hinüber. War sie ihm plötzlich egal? War er während dieser paar Tage nur nett zu ihr gewesen, weil er niemand anderen gehabt hatte?
»Fragst du dich nicht manchmal, was du aufgegeben hast, um so zu werden?«, wollte sie wissen.
Giles zuckte mit den Schultern. »Nur ein bisschen Luft.« Er tippte sich gegen die Brust. »Und davon habe ich noch sehr viel mehr.«
»Hast du keine Angst davor, dich zu verändern? Jemand anders zu werden?«
Giles wischte die Frage mit einer Handbewegung fort. »Komm schon, June, jeder verändert sich. Was ist falsch daran? Das gehört zum Leben dazu. Man muss nicht allein sein.« Sein Blick hing immer noch an seinen Mitschülern.
Juniper gab nicht auf. Sie versuchte weiter, Giles zu überzeugen. »Ich bin ein Teil dieser Welt. Aber nicht derselbe Teil wie du. Vielleicht hätten sich alle anderen uns anschließen sollen. Hast du schon mal daran gedacht?« Doch ihre Worte klangen hohl, so als würde sie sich selbst nicht richtig glauben. Juniper hätte am liebsten geweint. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie es sein könnte, mit der etwas nicht stimmte, aber vielleicht war es so. Vielleicht hatte sie sich die ganze Zeit geirrt.
Giles sah allmählich etwas genervt aus. Er konnte es offensichtlich nicht erwarten, zu seinen Mitschülern zurückzukommen. Juniper griff nach seinem Arm. »Eines Tages wirst du wieder unter den Baum zurückkehren, nicht wahr? Und dann wirst du immer wieder und wieder und wieder dorthin gehen.«
Sie war überrascht, wie leicht er sie abschütteln konnte. Endlich sah er ihr direkt ins Gesicht.
»June, wir können alles haben, was wir wollen. Schau mich an, mir geht’s gut.«
»Aber … aber … was ist mit unseren Eltern?«
»Was soll mit ihnen sein? Sie sind berühmt und werden bewundert. Wer würde das nicht wollen? Vielleicht geht es ihnen tatsächlich gut. Vielleicht geht es ihnen besser als gut, und wir waren diejenigen, die sich verändert haben. Ist es nicht das, was Erwachsenwerden bedeutet?«
Giles warf einen sehnsüchtigen Blick auf seine Mitschüler, die auf ihn warteten. Er lächelte und wandte sich langsam wieder an Juniper. »Ich kann ihn jetzt hören, weißt du? Den Raben, Neptun, auch wenn ich ihn nicht sehe. Ich kann ihn verstehen, genau wie Skeksyl gesagt hat. Ich weiß nicht, wie. Es ist plötzlich einfach passiert. Seine Stimme taucht manchmal in meinem Kopf auf, fast unhörbar. Sie vermischt sich mit meinen eigenen Gedanken. Manchmal weiß ich nicht, welche Gedanken von mir sind und welche von ihm. Ist das nicht merkwürdig?« Giles dachte einen Moment nach. »Aber er weiß genau, was ich denke und fühle. Er hat mir gesagt, dass du herkommen würdest. Er will nicht, dass ich weiter mit dir rede. Er sagt, du bist nur neidisch.«
»Das … das stimmt nicht«, murmelte Juniper.
»Ich fühle mich stärker, das ist alles. Genau wie Skeksyl gesagt hat. Er hat nicht gelogen.«
Nein, das hatte er nicht. Er hatte auch ihre Eltern nicht angelogen. Sie wollten ihren Traum leben, und er hatte ihn ihnen in einem Ballon überreicht.
Giles’ Mitschüler begannen nach ihm zu rufen. »Ich … ich muss los«, sagte er und wandte sich unvermittelt zum Gehen.
»Giles!«, rief Juniper und er hielt inne. »Ist es … ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«
Er drehte sich noch einmal um und sah ihr direkt in die Augen. »Es ist unglaublich, June. Es verändert alles.«
Das war genau die Antwort, die sie gleichzeitig erhofft und gefürchtet hatte.
Juniper kehrte in den nächsten drei Tagen sechsmal zum Baum zurück. Jeder Besuch verwirrte sie ein bisschen mehr. Etwas sagte ihr, sie solle in die Unterwelt zurückkehren und ihren Handel mit Skeksyl machen. Und plötzlich war es nicht mehr die Welt, auf die sie wütend war, sondern sie war wütend auf sich selbst. Warum musste sie so sein, wie sie war? Nirgendwo stand geschrieben, dass Juniper Berry ein trauriges, einsames Mädchen zu sein hatte, das von ihren Eltern vergessen wurde. Sie musste nicht abgeschottet von der Außenwelt leben. Sie konnte etwas dagegen tun.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Wenn ihre Eltern sie nicht mehr brauchten, dann musste sie eben jemand werden, den sie brauchten. Wenn sie sie kaum noch beachteten, musste sie jemand sein, den sie nicht länger ignorieren konnten. Jemand, den sie lieben würden. Jemand, den alle lieben würden. Dann würde sie nie wieder einsam sein.
Sie ging noch einmal zum Baum und legte die Hand auf den Stamm. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht mehr, was richtig ist.«
Neptun flatterte von seinem Ast herunter und setzte sich direkt über sie. Er klopfte mit dem Schnabel gegen den Stamm.
Ganz allmählich schob sich Junipers Hand zu der Stelle mit dem Zeichen. »Manchmal fühle ich mich, als würde die ganze Welt etwas wissen, das ich nicht weiß. Ich will doch nur irgendwo dazugehören. Ich will Eltern haben, denen ich nicht egal bin.«