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»Wer ist er?«

»Was ist er, besser gesagt. Er ist ein schwarzer Spiegel, ein dunkler Dieb, der vor langer Zeit hierher verbannt wurde.«

»Verbannt von wo?«

»Von einem Ort, an den kein Mädchen wie du gehört. Ein Ort, an den du nicht einmal denken solltest, wenn du nicht verrückt werden willst. Glaub mir, Juniper, es gibt wesentlich schlimmere Welten als diese. Und jetzt musst du deinen Eltern helfen.«

»Was kann ich tun?«

»Lass deine Eltern nicht hierher zurückkommen. Halte sie auf, koste es, was es wolle. Bevor es zu spät ist.«

»Aber ist schon zu spät. Ich will meine alten Eltern zurück.«

»Das ist unmöglich, liebes Kind. Du müsstest zu all den Ballons gelangen, die er sicher weggeschlossen hat. Nicht einmal ich weiß, wo er sie aufbewahrt. Außerdem würde er dich niemals in die hintere Halle lassen. Er ist immer da. Halte dich an die Eltern, die du jetzt hast.«

Juniper lief zu seinem Tisch. »Bitte! Es muss doch einen Weg geben!«

»Sei vorsichtig, Juniper. Deine Seele wird er am allermeisten wollen. Die Seele eines Kindes, besonders die eines Kindes wie dir, ist viel mehr wert als die jedes Erwachsenen. Doch nur sehr selten ist ein Kind bereit, den Tauschhandel einzugehen.«

»Ich muss meine Eltern retten.«

»Nein. Unmöglich. Und jetzt geh. Er weiß, dass heute ein Ballon fertig werden sollte. Er wird bald hier sein.«

Juniper sah sich um. »Ich kann Ihnen helfen, diesen Ort zu verlassen.«

»Liebes Kind, ich werde niemals hier wegkommen. Dieser Ort ist mein Schicksal.« Dann lächelte er. »Wenigstens habe ich jetzt wieder einen Namen.«

Auf Junipers Gesicht erschien ebenfalls ein schwaches Lächeln. »Theodor.«

»Theodor. Und jetzt geh. Handle klug. Pass auf dich auf, kleine Juniper Berry. Und denke daran, manchmal ist das, was uns normal erscheint, in Wirklichkeit außergewöhnlicher als alles andere.«

Sie öffnete die Tür. Die Luft war rein und sie schlich auf Zehenspitzen durch die Halle zurück zur Treppe. Sie schaute sich nur einmal um und erblickte zu ihrer Überraschung ein weiteres Paar, das auf dem Weg zu Skeksyl war. Juniper sah ihnen jedoch nicht lange nach. Sie rannte die Stufen hinauf und zurück zur Villa.

Das Haus war dunkel. Nichts bewegte sich und es war ganz still. Keine einzige Lampe leuchtete, keine Stimmen waren zu hören, keine Schritte, kein Papiergeraschel, nichts. Das Haus schien in einen todesähnlichen Schlaf gefallen zu sein. Juniper musste ihre Eltern finden, doch allein der Gedanke erfüllte sie mit Furcht.

»Mom?« Ihre Stimme war heiser vor Angst, als sie das Haus durch die Hintertür betrat. »Dad?« Doch wie erwartet, erhielt sie keine Antwort. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie verschränkte die Hände, damit sie nicht im selben Rhythmus zitterten wie ihr Herz. Sie musste ihre Eltern finden, bevor sie die Luft aus den Ballons saugten.

Langsam ging sie zum Esszimmer, wo sie ihre Eltern das letzte Mal gefunden hatte. Kitty war vermutlich noch in Junipers Zimmer und versteckte sich unter dem Bett.

Juniper wünschte, sie könnte mit ihr tauschen und sich im Bett verkriechen. Manchmal war es unerträglich, ein Mensch zu sein. Aber sie ging weiter.

Mit geschlossenen Augen bog sie um die Ecke. Das Esszimmer war nur noch wenige Schritte entfernt. Dann war sie dort angekommen, doch sie traute sich nicht nachzusehen.

Bitte, bitte, lass sie nicht dort sein. Lass sie nicht dort sein.

Sie schlug die Augen auf. Ihre Eltern waren nicht im Esszimmer. Der Raum war leer, es war keine Spur von ihnen zu sehen. Juniper seufzte erleichtert.

Vielleicht war es noch nicht zu spät. Mit neuer Zuversicht suchte sie den ganzen ersten Stock ab, ohne ihre Eltern zu finden. Sie mussten im Obergeschoss sein.

Ihre Hand umklammerte das Geländer, als sie die Treppe in den zweiten Stock hinauflief, direkt zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Der Holzboden knarrte unter ihren Füßen.

Juniper atmete tief ein und öffnete langsam die Tür.

Dort waren sie. Sie saßen einander bewegungslos an einem kleinen Tisch vor dem großen Fenster gegenüber. Das Fenster ging zum Garten hinaus und hinter der Scheibe war der in Wolken gehüllte Mond zu sehen.

Mr. und Mrs. Berrys Köpfe waren nach hinten gekippt, sodass ihre weit aufgerissenen Augen zur Decke starrten und ihre Münder offen standen. Ihre Beine waren ausgestreckt, die Arme hingen seitlich herab und ihre Körper waren vollkommen steif, als wären sie erstarrt. Unter den Stühlen, direkt neben ihren geöffneten Händen, lagen zwei leere Ballons.

»Mom? Dad?«

Ihre Eltern antworteten nicht, doch je näher Juniper kam, desto mehr glaubte sie, etwas zu hören. Bald war sie sich sicher. Das Geräusch war leiser als ein Flüstern und ertönte aus den Mündern ihrer Eltern. Es klang, als hätte ihnen jemand etwas tief in die Kehlen gestopft. Juniper ging noch einen Schritt näher heran. Dann noch einen.

Als sie schließlich nur noch eine Armeslänge entfernt war, sah sie die Kehle ihres Vaters im Mondlicht zucken. Sein Hals pochte, sein Puls ging viel zu schnell. Der Ton wurde lauter. Es war ein leises, gurgelndes Geräusch. Er versuchte, etwas zu sagen.

»Dad?« Langsam streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren. Er war eiskalt, und als sie ihn aufsetzen wollte, regte er sich nicht. Sein Körper war steif gefroren. In seinem Mund bewegte sich seine aufgedunsene Zunge. Auf seinen Lippen bildeten sich kleine Bläschen und zerplatzten. »Was hast du gesagt, Dad?«, fragte Juniper.

Sie beugte sich vor und hielt ihr Ohr so nah wie möglich an seinen Mund. »Was hast du gesagt?«

Dann tröpfelten die Worte leise aus seiner Kehle und fanden den Weg zu ihr. »Hilf uns!«

Junipers Augen wurden weit vor Entsetzen.

Es krachte laut, als ihre Mutter nach vorne auf die Tischplatte knallte und sich zu drehen und zu winden begann. Ihre Knie donnerten gegen den Tisch, ein Glas fiel zu Boden und zersprang. Sie ruderte heftig mit den Armen, und ihr Gesicht schlug mehrmals auf die Tischplatte, bis auf ihrem Nasenrücken eine blutende Wunde klaffte. Sie hatte jede Kontrolle über ihren Körper verloren.

Gleichzeitig begann Mr. Berry auf der anderen Seite des Tisches genauso zu zucken wie seine Frau. Er wurde von Krämpfen geschüttelt, als würde er unter Strom stehen, glitt vom Stuhl und fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden, wo er zappelnd liegen blieb.

Juniper machte einen Schritt zur Seite, entsetzt und hilflos. Tränen traten ihr in die Augen. »Mom! Dad!«

Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Beim Klang ihrer Stimme wurden die Körper ihrer Eltern schlaff und es legte sich Stille über das Haus. Aber sie währte nur kurz.

Das Gesicht auf den Boden gepresst, mit geöffnetem Mund und leeren Augen, die nach Juniper zu suchen schienen, platzte etwas in Mr. Berrys Kehle. Seine Augen flackerten und zwei Worte stiegen aus seinem Mund, laut und angsteinflößend wie ein Urschrei. »Rette unsss!« Dann noch einmaclass="underline" »Rette uuunnnnnssss! Rette uuunnnssssss!« Immer und immer wieder.

Juniper hielt sich die Ohren zu und lief aus dem Zimmer. Sie rannte die Treppe hinab, durch die Hintertür hinaus und in den Wald hinein, während die Worte sie wie giftiger Nebel umgaben. In ihrem Kopf herrschte ein riesiges Chaos aus Angst, Panik und schrecklicher Trauer. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie es viel zu lange versäumt hatte, ihren Eltern zu helfen. Und jetzt waren sie vielleicht für immer verloren.