Skeksyl riss ihr den Ballon aus der Hand, bevor sie ihn mit einem Band verschließen konnte. »Dein Atem wird am besten von allen schmecken«, zischte er. Seine spitze Zunge schoss aus dem Mund und fuhr über seine bleichen, aufgesprungenen Lippen. Seine Hände und sein ganzer Körper zitterten heftig. Bevor er weitermachen konnte, musste er sich mit einer Hand auf dem Tisch abstützen. Sein Atem wurde schneller und klang unnatürlich. Merkwürdige Geräusche kamen unkontrolliert aus seiner Kehle. Sein Lächeln wurde immer breiter.
Schließlich öffnete er hastig den Ballon, hielt ihn an seinen sabbernden Mund und atmete seinen Inhalt gierig ein.
Juniper und Giles sahen gleichzeitig entsetzt und gespannt zu. Die Luft rauschte aus dem Ballon und ließ ihn innerhalb weniger Sekunden zusammenschrumpfen. Skeksyls Hals pulsierte, während er Junipers süßen Atem trank. Er genoss jeden einzelnen Schluck.
Als der Ballon komplett leer war, lehnte er sich zurück und lächelte boshaft. Sein Körper wurde schlaff. Der Ballon glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. »Ich werde von deiner Wärme erfüllt«, sagte er zu Juniper. »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gekostet. So rein, so wahrhaftig.«
Stille senkte sich über den Raum. Juniper dachte fieberhaft nach, doch ihr fiel nichts mehr ein, was sie hätte tun können.
Plötzlich schoss Skeksyl nach vorn. Sein Körper wurde steif. Seine Hände, so starr wie Krallen, fuhren an seinen Hals. »Was … was hast du getan?« Er würgte und spuckte, gelber Schleim flog aus seinem Mund und landete zischend auf dem Holztisch. Unter dem Umhang schien sein Körper zu brodeln. Sein Stock polterte zu Boden, als Skeksyl auf die Knie fiel.
Neptun flog aufgeschreckt durch den Raum und krächzte wie noch nie, während sich sein Herr vor Schmerzen krümmte.
»Jetzt!«, rief Juniper. Giles rannte aus dem Raum und in die dunkle, verbotene Halle hinein. Doch bevor Juniper ihm folgte, nahm sie den gelben Ballon, auf dem das Wort Weisheit stand, hielt ihn vor Skeksyls im Schatten liegendes Gesicht und ließ ihn zerplatzen.
Juniper holte Giles mitten in der dunklen Halle ein. »June, du hast es geschafft! Ich habe gesehen, wie du die Ballons vertauscht hast. Woher wusstest du, dass das passieren würde?«, fragte er.
»Ich wusste es nicht«, antwortete sie. »Aber irgendeinen Grund musste es doch haben, dass Skeksyl speziell hergestellte Ballons benutzt, oder?«
»Einen Moment lang habe ich gedacht, du würdest unterschreiben.«
»Einen Moment lang habe ich das auch gedacht.«
Sie liefen durch die Halle, ohne zu wissen, was sie erwartete und wo die Ballons aufbewahrt wurden, doch Juniper fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie schwebte fast durch die erdrückende Dunkelheit. Wenn es heller gewesen wäre, hätte Giles das Lächeln auf ihrem Gesicht sehen können.
Die Halle schien kein Ende zu nehmen. Juniper fragte sich, unter welchem Teil der Erdoberfläche sie sich gerade befanden und was dort oben passierte. Vielleicht würde sie eines Tages genau über diese Stelle gehen, die ganze Welt würde ihr offen stehen, und die Schrecken, die darunterlagen, wären längst vergessen. Dort oben wartete so viel auf sie. Aber erst musste sie sich in Sicherheit bringen und ihre Eltern retten.
Als sie die Dunkelheit endlich hinter sich ließen, trauten sie ihren Augen kaum.
Vor ihnen erstreckte sich eine unterirdische Welt von überwältigender Größe. Von der riesigen Höhle, in der sie standen, gingen zahlreiche mit Fackeln beleuchtete Hallen in verschiedene Richtungen ab. Wendeltreppen schraubten sich in die Höhe und führten zu Löchern in der Decke und wer weiß wohin. Alles schien sich kilometerweit auszudehnen, ein unterirdisches Labyrinth von unglaublichen Ausmaßen, das sich in der Ferne verlor, ohne dass ein Ende in Sicht gewesen wäre.
»Was sollen wir tun?«, rief Giles. Seine Stimme hallte von den Höhlenwänden wider wie lautes Donnergrollen. »Wohin sollen wir gehen? Skeksyl wird bald kommen, um uns zu holen!«
»Keine Ahnung, ich weiß es nicht! Die Ballons können überall sein!« Juniper fühlte, wie sie von Panik erfasst wurde. Sie hatten nur einen einzigen Versuch, und wenn der schiefging … nein, sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Frustriert und nervös hüpfte sie auf der Stelle, und da spürte sie es. Ihr Monokular. Schnell holte sie es hervor, zog es auseinander und hielt es vor ihr Auge.
Sie suchte die Unterwelt nach irgendeinem Zeichen ab, einem Hinweis, der sie auf die richtige Spur bringen würde. Doch jede Halle führte zu einer Treppe, ging in eine andere Halle über oder endete in einer Sackgasse. Einige der Hallen erstreckten sich so weit, dass sie endlos hätten sein können. Überall gab es Türen mit Holzschnitzereien, ähnlich wie die, hinter der Juniper Theodor gefunden hatte. Wenn sie jede Halle und jede Tür ausprobieren mussten, würde die Suche nach den Ballons eine Ewigkeit dauern. Plötzlich erschien alles furchtbar hoffnungslos.
Doch dann entdeckte Juniper etwas durch die Linse.
In der Mitte einer langen Halle glühte der Fußboden, und es sah so aus, als würde sich der Boden bewegen. Jede andere Halle, die sie durch das Fernrohr sah, glich der nächsten. Eine war wie die andere, nur diese eine nicht.
Das musste etwas bedeuten. Es war ihre einzige Spur. Also rannten sie los.
Das Glühen wurde mit jedem Schritt stärker, und als sie die Halle erreicht hatten, entdeckten sie unzählige Funken, die über den Boden schwirrten, ähnlich wie die in Theodors Raum. Sie flogen alle unter derselben mit Schnitzereien verzierten Tür hindurch.
Das Bild auf der Tür zeigte Hunderte von Fliegen, die eine dünne Krone, in deren Mitte Rosen blühten, umkreisten und sich darauf niederließen. Das ergab zwar keinen Sinn für Juniper, doch sie hatte keine Zeit, über die versteckte Bedeutung des Bildes nachzudenken. Das musste warten. In dieser Sekunde ging es nur darum, in den Raum zu gelangen und zu hoffen, dass sich die Ballons hinter dieser Tür befanden.
»Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Giles hob den Fuß und wollte gerade mit seinem Turnschuh auf die Funken treten, als Juniper ihn zurückhielt.
»Nein«, sagte sie. »Wir sollten ihnen nicht den Weg versperren.«
Giles sah auf die Funken hinab. »Den Weg versperren?«
»Sie sehen irgendwie lebendig aus, findest du nicht?«
»Es sind Funken!«, erwiderte Giles.
Juniper bückte sich und zog ihr Vergrößerungsglas hervor. Aus der Nähe betrachtet, sahen die Funken wie winzige Lebewesen mit schwarzen Augen aus, die beinahe menschlich wirkten. Sie hatten kleine Flügel, die zu glühen begannen, wenn sie aneinandergerieben wurden.
»Wahnsinn«, flüsterte Juniper. »Einfach unglaublich.«
»Warum wollen die alle da rein?«, fragte Giles.
Doch Juniper antwortete nicht. Sie streckte die hohle Hand aus und ein paar Funken krabbelten hinein. »Das kitzelt. Sie sind überhaupt nicht heiß!«
»June, deine Hand leuchtet.«
Giles hatte recht. Das Leuchten breitete sich langsam über Junipers ganzen Arm aus und ihr Körper wurde von einer herrlichen Wärme erfüllt. »Sie sind wunderschön«, sagte sie. »Einfach magisch. Was tun sie an einem Ort wie diesem?«
Kurze Zeit später endete der Funkenstrom, das leise Summen verstummte und die Halle war wieder leer. Juniper setzte die Funken aus ihrer Hand zurück auf den Boden und sie verschwanden ebenfalls unter der Tür.
»Schnell!« Juniper sprang auf. »Lass uns nachsehen, wo sie uns hinführen.«
Giles ging vor. Er schaffte es ohne Probleme, die schwere Tür zu öffnen.
Innen drin, in der Mitte des Raumes, wuchs noch ein Baum. Er glühte weiß, Tausende von Funken bedeckten fast jeden Millimeter, es wimmelte nur so von ihnen und sie summten laut. Dutzende von Luftballons waren an den Zweigen befestigt. Sie waren unterschiedlich groß und Funken liefen an ihren Schnüren empor.