Der Lärm von oben verstummte nicht, er wurde sogar lauter. Sie näherte sich der Außenwelt.
»Du kannst nicht entkommen, Juniper!«, rief Skeksyl, und es klang, als würde er ihr die Worte direkt ins Ohr brüllen. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde er sie in seinen Klauen halten. Das Ende war nah.
Juniper erklomm Stufe für Stufe, obwohl ihre Muskeln brannten. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie weinte nicht. Sei stark, dachte sie. Sei tapfer.
Dann sah sie endlich das Licht. Die Nacht war vorbei. Die Sonne ging gerade auf.
»Giles!«, rief sie.
»June! Beeil dich!«, rief er zurück.
Seine Stimme erfüllte sie mit neuer Hoffnung. Juniper lief weiter. Sie stieg höher und höher. Nur noch ein paar Stufen, noch ein paar mehr und …
Sie war draußen. Sie hatte es geschafft. Die Sonnenstrahlen wärmten sie. Rechts von ihr waren die Ballons an einen Baum gebunden. Links stand Giles, der Betsy in den Händen hielt. Er hob sie ohne Probleme in die Höhe und hatte den Baum schon fast gefällt. Gleich war es vorbei.
Doch in diesem Moment fühlte Juniper die Hand, die nach ihrem Knöchel griff. Sie fiel hart auf den Rücken.
»Du gehörst mir!« Skeksyls Stimme ertönte aus dem Loch unter dem Baum. »Ich werde dich ewig leben lassen, Juniper! Du wirst leben, aber du wirst dir wünschen, du wärst tot!«
»Nein!« Giles ließ die Axt fallen und rannte zu Juniper. Er fasste sie an den Handgelenken und begann zu ziehen. Doch das nützte nichts. Skeksyl zog sie nur beide näher zu sich heran.
»Giles! Die Ballons!«, rief Juniper. »Rette die Ballons!«
Hastig griff Giles nach den beiden Trauben, die Juniper in der Hand hielt, und lief zu einem nahe stehenden Baum. Er band die Ballons so schnell an einen Ast, dass seine Handbewegungen vor Junipers Augen verschwammen.
Juniper versuchte währenddessen, sich aus Skeksyls Klauen zu befreien, doch er ließ nicht locker. Er hatte sie fest im Griff. Und er zog sie immer weiter zu sich hinab.
Sie versuchte, ihre Füße in den Boden zu stemmen, aber das klappte nicht. Ihre Hände kratzten hilflos über die Erde.
Das Loch kam immer näher. Skeksyl zog sie zurück zu den eiskalten Stufen.
Giles stürzte mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
»Nein! Der Baum!«, rief Juniper. »Du musst den Baum fällen!«
Giles zögerte, er war hin- und hergerissen.
»Das ist unsere einzige Chance!«, rief Juniper.
Mit erstaunlicher Kraft und Schnelligkeit griff Giles wieder nach der Axt und schlug wie wild weiter auf den krummen Stamm ein. Ein Schlag, zwei Schläge, drei Schläge … Nach kurzer Zeit begann der Baum zu knirschen und zu knacken.
In Junipers Kopf rasten die Gedanken. Wenn der Baum auf mich drauffällt … Doch sie schob den Gedanken beiseite. Es war besser, ihn zu verdrängen.
»Ja! Ja! Komm zu mir, Juniper! Du gehörst mir!«
Juniper wandte den Kopf und in den ersten noch schwachen Sonnenstrahlen des Tages konnte sie Skeksyl sehen. Mehr als das, sie sah sein Gesicht. Die Kapuze war nach hinten gerutscht und Juniper sah ihn zum ersten Mal in seiner ganzen Hässlichkeit. Der Anblick war so verstörend und widerlich, dass sie ihn ihr ganzes Leben nicht vergessen würde. Er hatte nicht einmal ein richtiges Gesicht. Es waren die Überreste eines Gesichts, die Überreste eines Mannes ohne eigene Seele.
Dennoch blickte sie ihn fest an. »Ich gehe nirgendwohin. Und meine Seele bekommst du auch nicht.« Mit ihrem freien Bein trat sie so fest sie konnte direkt zwischen das, was einmal seine Augen gewesen waren. Skeksyls Kopf flog zurück und Juniper war frei.
Giles führte gerade den letzten Axthieb aus und ein lautes Krachen hallte durch den Wald. Als Skeksyl nach oben schaute, sah er noch, wie der Baum auf ihn herabstürzte.
Das Loch wurde unter Schutt und Geröll begraben, und die Treppe stürzte ein, jede einzelne Stufe zerbröckelte und löste sich auf, als hätte sie nie existiert. Mit einem unmenschlichen Heulen verschwand Skeksyl unter der sich bewegenden Erde. Sein Arm, der noch immer versuchte, Junipers Knöchel zu packen, war das Letzte, was sie von ihm sehen konnten. Er ragte aus dem Boden wie eine riesige Wurzel. Dann verschwand auch er, wurde zu Staub, der von einem kräftigen Windstoß davongeweht wurde.
Es war vorbei.
Ein neuer Tag war angebrochen und die Sonne ließ die Ballons wunderschön leuchten. Der Staub, den der gefallene Baum aufgewirbelt hatte, stieg empor und tanzte in den goldenen Strahlen, die durch das grüne Blätterdach fielen.
Die Ballons bewegten sich in der Brise wie ein übergroßes Windspiel und verbreiteten eine angenehme, friedliche Atmosphäre. Sie hingen glänzend zwischen den Zweigen, als würden die kleinen Funken immer noch auf ihnen herumkrabbeln. Unter ihnen umarmten sich Juniper und Giles mit geschlossenen Augen. Sie sagten nichts. Worte waren überflüssig.
Als sie einander schließlich losließen, wussten sie, dass ihnen noch eine letzte Aufgabe bevorstand – die wichtigste und beängstigendste Aufgabe, denn wenn es nicht funktionierte, waren ihre Familien für immer zerstört. Alles wäre umsonst gewesen.
Sie gingen die Ballons einen nach dem anderen durch und suchten nach den Unterschriften ihrer Eltern. Juniper entdeckte einen Ballon ihrer Mutter und wog ihn in der Hand. Der Ballon war so leicht wie eine Nebelschwade. Vorsichtig strich sie über die orange Oberfläche. Der Ballon schien jetzt fast noch verletzlicher zu sein. Nur eine hauchdünne Plastikschicht hielt die Seele ihrer Mutter davon ab, sich mit der Morgenluft zu vermischen. Juniper band sich den Ballon vorsichtig um das Handgelenk, damit er nicht davonflog. Unter der orangen Hülle befand sich etwas äußerst Kostbares.
Zu guter Letzt waren es insgesamt zwanzig Ballons, fünf für jedes Elternteil.
Giles und Juniper nickten einander zu. Dann drehte sich Giles um und rannte nach Hause, während die zehn Ballons hinter ihm herschwebten, regenbogenfarbene Tropfen vor einem blauen Himmel. Juniper sah zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern hinauf. Sie atmete einmal tief durch und hoffte inständig, dass es nicht zu spät war.
Als sie das Haus betrat, wurde sie bereits von Kitty erwartet. Jaulend sprang der Hund bis an ihre Brust.
»Mir geht es gut, alles in Ordnung«, sagte Juniper beruhigend. »Aber wir müssen uns beeilen.« Als sie Kitty ansah, wurde ihre Stimme brüchig. »Es wird funktionieren, oder? Es muss einfach!« Kitty stieß ein leises Winseln aus und rieb sich an Junipers Bein. »Ich hoffe es auch. Heute ist alles möglich.« Gemeinsam mit ihrem Hund ging sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern.
Juniper öffnete die Tür. Ihr Vater lag immer noch ausgestreckt auf dem Boden, während ihre Mutter in der merkwürdigen Position verharrt war, in der sie über dem Tisch zusammengesunken war. Ihre Augen waren geöffnet und leer. Die Sonne schien durch das riesige Fenster auf ihre gebrochenen Körper.
Juniper ließ sich auf die Knie fallen, öffnete einen der Ballons und hielt ihn mit zitternden Händen an die Lippen ihres Vaters. Es erinnerte sie an früher, als sie noch klein gewesen war und ihre Eltern sie liebevoll mit einem Löffel gefüttert hatten, den sie wie ein Flugzeug durch die Luft fliegen ließen. Jetzt musste sie sich um ihre Eltern kümmern. Sie ließ den Inhalt des Ballons in die Kehle ihres Vaters strömen und passte auf, dass nicht das kleinste bisschen danebenging. Dann war ihre Mutter an der Reihe.
Anschließend trat Juniper zurück und wartete darauf, dass etwas geschah. Doch nichts passierte. Mr. und Mrs. Berry blieben unbeweglich liegen.
»Nein, nein, nein! Bitte nicht!«, rief Juniper. Verzweifelt schüttelte sie ihre Eltern, schlug ihnen auf die Brust und küsste sie. Immer noch nichts.
Juniper wurde von dem schmerzlichen Gefühl gepackt, ihre Mom und ihren Dad für immer zu verlieren. Schnell öffnete sie einen zweiten Ballon für jeden und drückte die Luft zurück in die Lungen ihrer Eltern. »Los jetzt!«, flehte sie. »Mach schon! Rette sie!«