Junipers Befürchtungen lösten sich ebenfalls in Luft auf. Dieser Junge stellte ganz offensichtlich keine Bedrohung dar, weder für sie noch für sonst jemanden. Sie beschloss, ihrem Bauchgefühl zu folgen.
»Möchtest du mit unter den Schirm kommen?«, fragte sie und hielt den Regenschirm noch etwas höher.
Der Junge zögerte, dann nickte er. Juniper lief zu ihm und hielt den Schirm über ihre Köpfe. Nun, da sie so nah nebeneinanderstanden, fielen ihr sein süßlicher Geruch und seine ungewöhnlichen Augen auf. Das Braun und Gold seiner Iris schienen ständig in Bewegung zu sein. Er lächelte schüchtern, und es gefiel ihr, wie sich ein Mundwinkel hob, während der andere unten blieb. Seine Finger klopften unablässig gegen seine Beine, im selben Rhythmus, wie seine Zähne klapperten. Er zappelte die ganze Zeit herum und schien bei jedem von Junipers Wimpernschlägen zusammenzuzucken. Juniper fand das ziemlich witzig und blinzelte so schnell sie konnte. Er war ein totales Nervenbündel. Nie im Leben hätte sie sich so einen Jungen ausdenken können, schon gar nicht als einen Freund. Doch als sie ihn nun ansah, war sie hin und weg.
Seine Augen sprangen ständig hin und her, und sie folgte seinem Blick zu den Bäumen hinüber. »Wonach hast du gesucht?«
Der Junge zuckte nur mit den Schultern und sah zu der hechelnden Kitty, die ebenfalls unter dem Regenschirm Schutz gesucht hatte. Zögernd senkte er die Hand. Er streichelte Kitty vorsichtig und zog die Hand gleich wieder weg. Kitty schien das zu gefallen. Sie war ganz entspannt und rückte ein Stück näher an ihn heran.
»Du kannst nicht hier in der Nähe wohnen. Es gibt kein anderes Haus in Sichtweite.«
»Ich wohne dort drüben.« Der Junge zeigte in den Wald. »Es ist das nächste Haus. Technisch gesehen sind wir Nachbarn, auch wenn es eine halbe Stunde dauert, von uns zu euch zu laufen.«
»Ein Nachbar!« Juniper konnte ihr Glück kaum fassen. Rasch zog sie ihr Monokular aus der Tasche, hielt es vor ein Auge und blickte in die Richtung, in die der Junge gezeigt hatte. Leider waren nur dicht stehende Bäume zu sehen. Sie beschloss, im Winter etwas tiefer in den Wald hineinzugehen, wenn die Blätter gefallen waren und sie eine bessere Sicht hatte. »Wie heißt du?«, fragte sie, schob das Monokular wieder zusammen und steckte es zurück in die Tasche.
»Giles.«
»Hallo, Giles, ich bin Juniper Berry. Und das ist Kitty.«
Giles nieste. Er hielt sich beide Hände vors Gesicht und wischte sie anschließend an der Rückseite seines T-Shirts ab. Juniper beschloss, vorerst auf einen höflichen Händedruck zu verzichten.
»Was hab ich dir gesagt? Du wirst krank!« Sie wusste, dass sein Haar triefnass war, aber sie brauchte einen Vorwand, um es zu berühren. Sie hob die Hand und fuhr ihm über den Kopf, ohne darauf zu achten, dass er vor ihr zurückzuckte. Seine Haare fühlten sich an wie dicke Bindfäden oder, was Juniper noch besser gefiel, wie nasse Raupen. Sie drückte eine Strähne zusammen, und Wasser tropfte in ihre Hand. »Sieh nur, du bist klitschnass. Wie können deine Eltern dich nur so vor die Tür gehen lassen?«
»Das ist ihnen egal«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Nichts. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut.«
»Nein, tut es nicht. Deine Kleider sind völlig durchnässt. Und warum trägst du nur ein T-Shirt?« Er hatte Gänsehaut auf den Armen und seine Haut war fleckig. Sie legte den Arm um ihn, damit ihm warm wurde.
Ihre Fürsorge entlockte Giles ein Lächeln. Sein ganzes Gesicht hellte sich auf, wie Schnee in der Sonne. Allmählich wurde das angstvolle Zucken weniger. »Ich mag dein Haar«, sagte er schließlich. »Es hat die Farbe von Erdbeeren und Rosen.« Was eine ziemlich gute Beschreibung von Junipers dickem, gewelltem Haar war. Normalerweise störten sie ihre widerspenstigen Locken, aber plötzlich machte ihr das nicht mehr so viel aus.
»Danke. Ich mag dein Haar auch.«
»Ehrlich? Niemand mag mein Haar.«
»Ich schon.«
Lächelnd streckte Giles die Hand aus, um sich an einem Baumstamm abzustützen. Dummerweise rutschte er auf dem glitschigen Matsch aus und verlor den Halt. Seine Beine flogen nach vorn und er landete rücklings auf dem Boden. Schlamm und Dreck spritzen auf seine Kleidung.
»Autsch!« Giles rieb sich seinen knochigen Ellbogen. Er sah aus, als versuche er krampfhaft, nicht zu weinen. Sein Mund zitterte, und er biss sich auf die Unterlippe, wobei ein angeschlagener Zahn zum Vorschein kam. Er drehte den Kopf und sah in die Richtung, in der er wohnte, bevor er kurz die Augen schloss. »Das hat wehgetan.«
Als Juniper ihn dort auf dem Boden sitzen sah, unglücklich, klitschnass, zitternd, schmutzig und blass, fühlte sie sich schrecklich. »Hey«, sagte sie. »Komm schon, steh auf.« Sie streckte ihm die Hand hin und Giles ergriff sie. Ihre Hand schloss sich um seine, und sie zog ihn hoch, als würde er nicht mehr wiegen als ein Kissen. Er schoss nach oben, stieß mit ihr zusammen und hätte sie fast zu Boden geworfen, wenn er sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte. Juniper machte schnell einen Schritt nach hinten und wischte sich den Schmutz vom Mantel, während Giles seine Schulter massierte.
»Sei vorsichtig«, sagte er. »Du hättest mir fast den Arm ausgerissen.«
»Stell dich nicht so an.« Sie lachte. Doch als sie Giles’ Gesichtsausdruck sah, hatte sie sofort ein schlechtes Gewissen. Kaum zu glauben, wie verletzlich er war. Alles an ihm, sogar seine Gefühle, schienen furchtbar zerbrechlich zu sein. Er sah aus, als hätte er sich am liebsten in Luft aufgelöst, und das konnte Juniper kaum ertragen.
»Du bist genauso wie die anderen in der Schule«, stellte er fest. »Wie alle Leute, überall. Erst dachte ich, du wärst anders. Aber ich hätte es besser wissen müssen.«
»Nein, es tut mir leid«, sagte Juniper.
Verlegen sahen beide zur Seite. Juniper konnte nur ahnen, was ein Klassenzimmer voller Kinder mit so einer leichten Beute anstellen würde. Sie hätte wetten können, dass er am liebsten möglichst weit weg von allen Menschen gewesen wäre. Das ist wirklich unfair, dachte sie. Jeder Mensch sollte seinen Platz auf der Welt haben. »Geben sie dir blöde Spitznamen?«
»Sie machen sich einen Spaß daraus, mich zu ärgern«, gab er zu. Sein Gesicht wurde dunkel vor Traurigkeit und Verlegenheit. »Sogar die Mädchen.«
»Es tut mir leid, Giles. Wirklich.«
»Das lässt unsere Lehrerin die anderen auch immer sagen. Aber sie meinen es dann nicht ehrlich. Am nächsten Tag, wenn die Lehrerin nicht hinsieht, machen sie einfach immer weiter.«
»Warum verteidigst du dich nicht?«
»Wie denn? Das ist nicht so einfach.«
Juniper wusste, dass er recht hatte. Was für den einen leicht war, konnte für den anderen furchtbar schwer sein.
»Warum hab ich dich noch nie in der Schule gesehen?«, fragte er.
»Oh, ich werde zu Hause unterrichtet.«
Giles nickte. »Das würde ich auch gerne.«
»Nein, würdest du nicht. Es ist schrecklich einsam.«
Giles sah aus, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen sah er wieder zu den Bäumen hinüber, als würde er nach etwas Ausschau halten.
»Was hast du hier draußen gemacht?«, fragte Juniper.
Giles schwieg lange, bevor er antwortete. »Ich habe nach einem Baum gesucht.«
»Hier gibt es jede Menge Bäume. Wachsen bei dir zu Hause keine?«
»Doch.«
»Warum also solltest du im strömenden Regen so weit laufen, nur um dir unsere Bäume anzusehen?«
»Ich … Ich …« Er atmete tief ein. »Ich suche nach einem ganz bestimmten Baum.«
»Oh.« Juniper war verwirrt, doch sie genoss es, mit jemandem zu reden, der so alt war wie sie, auch wenn ihre Unterhaltung und Giles’ Verhalten etwas seltsam waren. Aber Juniper war sich ziemlich sicher, dass nichts, was Giles tat oder sagte, sonderbarer sein konnte als das, was mit ihren Eltern passiert war. Er mag die Natur, daran ist nichts auszusetzen. »Ich kenne alle Bäume hier in der Gegend. Es wachsen hauptsächlich Kiefern, ein paar Eichen, Tannen und Birken. Natürlich gibt es von jeder Sorte verschiedene Unterarten. Irgendwo wächst sogar Wacholder, aber das sind eher Büsche als Bäume.« Giles warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, und Juniper versuchte, sich zu konzentrieren. »Was für ein Baum ist es? Und warum willst du ihn finden?«