Kitty war in diesem Raum immer unruhig. Statt stillzusitzen, rannte sie durch die Gänge, einen nach dem anderen. Hoch und runter, vor und zurück, zwischen den Sitzen entlang und unter ihnen hindurch. Unermüdlich versuchte sie, Junipers Aufmerksamkeit zu erregen. Doch diesmal hatte sie keinen Erfolg.
Auf der Leinwand lief ein Film, der vor ein paar Jahren während einer Reise nach New York entstanden war. Juniper stand mit ihrer Mutter mitten im verschneiten Central Park. Die Stimme ihres Vaters ertönte hinter der Kamera.
»Juniper, wie gefällt dir New York? Ist es nicht toll hier?«
Es war kein Geräusch zu hören, der Verkehrslärm war lange verklungen. Kaum jemand war unterwegs und friedliche Stille hatte sich über die Stadt gelegt. Der Schnee hing wie weißes Moos an den Zweigen der Bäume und drückte sie nach unten. Bänke, Skulpturen und Brücken waren mit feinem, weißem Puder bedeckt, und die Findlinge waren schneebedeckte Berge, die es zu bezwingen galt. Es gab keine Fußspuren, niemand war in der Nähe, abgesehen von den Schnee-Engeln, die sie gerade gemacht hatten. Die umliegenden Gebäude verschwanden in einem weißen Nebel. Die einzigen Orientierungshilfen waren verschleierte Laternenpfähle, die wie kleine Leuchttürme neben den verschneiten Wegen aufragten.
Auf der Leinwand wirbelte Juniper mit aus dem Mund gestreckter Zunge im sanft fallenden Schnee herum. »Sind wir wirklich noch in New York? Ich glaub das einfach nicht!«
Mrs. Berry lachte. Sie hob ihre Tochter hoch und schwenkte sie im Kreis herum, der schönste Tanz von allen.
Während Juniper die Szene betrachtete, zog sie ihr Kaleidoskop aus der Tasche und sah hindurch. Aus einem Bild wurden Hunderte.
»Meine beiden Mädchen«, sagte Mr. Berry zärtlich. Er zoomte sie näher heran, sodass ihre Gesichter in Großaufnahme zu sehen waren. Er filmte ihre Augen, ihr Lächeln und ihr Flüstern. »Hey, was tuschelt ihr da? Keine Geheimnisse!«
Die Juniper auf der Leinwand nickte, genauso wie die im Zuschauerraum.
Mrs. Berry setzte sie ab und sah zu ihrem Mann. »Okay, du willst, dass wir es dir sagen?«
»Ja! Was auch immer es ist, raus damit. Hier und jetzt!«, sagte er.
»Zu Befehl.« Juniper kicherte. »Du hast es nicht anders gewollt!« Und alle beide, sie und ihre Mutter, ließen sich auf die Knie fallen, formten jede einen Schneeball und warfen ihn auf Mr. Berry.
»Hey! Das ist unfair!«
Die Kamera schwankte und wackelte, während sie das Weiß von New York City, den sich über der Stadt wölbenden Himmel und den elfenbeinfarbenen Mond einfing. Ihr Lachen übertönte alles und erfüllte die Lautsprecher des Kinos.
Juniper nahm jede Einzelheit der glücklichen Szene in sich auf. Sie sah zu Kitty, die mit ihrem katzenhaften Gang die Gänge hinauf und hinunter lief. Sie klatschte in die Hände, und in der nächsten Sekunde war der Hund an ihrer Seite. »Ich kapier’s nicht«, sagte sie zu Kitty. »Ich vermisse das. Ich vermisse Mom und Dad.«
Kitty leckte über ihre Hand.
»Ich weiß. Sie sind nur ein Stockwerk höher. Aber sie scheinen nicht mehr sie selbst zu sein. Was, wenn … Was, wenn es nicht nur ihre Jobs sind? Wenn mehr dahintersteckt, so wie Giles vermutet hat? Glaubst du, das ist tatsächlich möglich?«
Die Unterhaltung, die sie mit ihrem neuen Freund geführt hatte, ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie wusste jetzt, dass sich nicht nur ihre Eltern verändert hatten. Aber das musste ja nicht gleich bedeuten, dass etwas Ungewöhnliches dahintersteckte. Giles war offenbar nicht davon abzubringen, dass mit seinen Eltern etwas Seltsames vor sich ging, und Juniper musste zugeben, dass es merkwürdig war, mitten in der Nacht im Wald herumzulaufen. Aber das war’s auch schon. Ansonsten bewies das gar nichts. Was glaubten sie, gemeinsam entdecken zu können? Bestimmt waren Giles’ Eltern nicht einfach verschwunden, so wie er behauptet hatte.
Kitty legte sich auf den Rücken, damit Juniper ihr den Bauch kraulen konnte. Juniper tat ihr den Gefallen, dann gab sie sich selbst die Antwort auf ihre Frage: »Nein, wahrscheinlich steckt nichts weiter dahinter. Wahrscheinlich werden Leute einfach so, wenn sie sich über wichtigere Dinge Gedanken machen als …« Sie verstummte.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ihre Mutter stand auf der Schwelle, die Hände in die Hüften gestützt. In der merkwürdigen Mischung aus Licht und Schatten, zusammen mit dem Flimmern der Leinwand, sah sie aus wie eine fremde Frau. Juniper wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
»Juniper! Raus hier, aber sofort! Deine Lehrerin wartet auf dich.«
Mrs. Maybelline! Die hätte Juniper fast vergessen. »Ich hab mir nur gerade diesen Film angesehen.« Sie zeigte nach vorne. »Erinnerst du dich noch?«
Mrs. Berry warf einen kurzen Blick auf die Leinwand. »Natürlich. New York.«
»Aber …«
»Los jetzt! Diese Frau folgt mir auf Schritt und Tritt, und warum? Ich sag dir, warum: Weil du nicht da bist. Ich habe wirklich wichtigere Dinge zu tun, als herumzulaufen und dich zu suchen! Wenn ich diese Rolle nicht richtig spiele, gibt es tausend andere, die nur darauf warten, meinen Platz einzunehmen. Es kann alles so schnell den Bach runtergehen. Und was dann, Juniper? Was dann? Sollen wir wieder so leben wie vor ein paar Jahren? In diesem kleinen Haus? Dieses unwichtige, kleine Leben?«
»Warum nicht?«
Die Frage ließ ihre Mutter explodieren. Mrs. Berry ging auf Juniper los und zerrte sie vom Sitz. Kitty bellte wie wild. »Warum nicht? Warum nicht?! Ist das dein Ernst?« Sie schüttelte Juniper und ihre Nägel bohrten sich in den Arm ihrer Tochter. Dies war eine andere Sorte von Tanz.
Junipers Kopf wurde hin und her geschleudert, Tränen traten ihr in die Augen, aber ihre Mutter hörte nicht auf. »Du verstehst das nicht!« Etwas fehlte in ihrem Blick. Es waren nicht mehr dieselben wunderschönen Augen wie auf der Leinwand.
»Mom!«, rief Juniper schluchzend. »Mom, was ist los? Sag es mir! Bitte! Keine Geheimnisse …«
Mrs. Berry lächelte höhnisch. »Keine Geheimnisse? Na gut, Juniper, hier hast du deine Wahrheit!« Sie hielt ihr Gesicht ganz nah an Junipers, sodass sich ihre Nasen beinahe berührten. Mrs. Berry fletschte die Zähne, ihre Nasenflügel waren gebläht und ihre Augen schwarz. Dann sagte sie mit unnatürlich dunkler Stimme: »Ich habe endlich, was ich wollte. Und ich werde es mir nicht wieder wegnehmen lassen.«
Sie zerrte Juniper aus dem Raum und ins Wohnzimmer zu Mrs. Maybelline.
Hustend, beinahe würgend ging Mrs. Berry zurück nach oben. Ihre Schritte waren seltsam ruckartig. Von ihren früher so anmutigen Bewegungen war nichts mehr übrig geblieben. Sie wirkte jetzt irgendwie kleiner, ein wenig gekrümmt und buckelig.
Juniper wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich neben ihre Lehrerin. Was blieb ihr anderes übrig?
»Deine Mutter hat doch gerade tatsächlich mit mir geredet!« Mrs. Maybellines Augen waren vor Begeisterung weit aufgerissen. »Sie sagte: ›Sie. Warten Sie hier. Ich hole sie.‹ Es war wunderbar, einfach nur in ihrer Nähe zu sein. Ich hab keinen einzigen Ton herausbekommen. Wahrscheinlich hab ich mich völlig lächerlich gemacht.«
»Kam sie Ihnen normal vor?«, fragte Juniper.
Obwohl ihre Hauslehrer natürlich potenzielle Gesprächspartner waren, baute sie keine besonders enge Bindung mehr zu ihnen auf. Sie blieben nie besonders lange. Ihre Eltern fanden immer einen Grund, sie wieder loszuwerden, trotz der Schweigeklausel, die alle Angestellten unterschreiben mussten.
»Normal? Oh nein, auf keinen Fall! Deine Mutter ist alles andere als normal. Genauso wie dein Vater.«
Juniper setzte sich auf. »Tatsächlich?«
»Auf jeden Fall. Ich meine, sie … sie sind Stars!« Mrs. Maybellines starrer Blick war voller Ehrfurcht. Sie konnte nicht einmal blinzeln.
Juniper seufzte. »Was steht heute auf dem Stundenplan?«
»Eines Tages könntest du auch so sein wie sie. Du hast eine Menge Talent, Juniper, das sehe ich. Du schreibst erstklassig. Wirklich erstklassig. Und mit den Verbindungen deiner Eltern …«