Giles schien völlig gebannt von der Kraft der Schläge und dem Geräusch der Axt zu sein, die das Holz wie Butter durchschnitt.
»Ich wollte dich gerade rufen, aber … sieh nur, wie schnell er ist«, sagte er, als Juniper näher kam, ohne den Blick abzuwenden. »Als wäre die Axt ein Teil von ihm.« Er fasste an seinen eigenen Bizeps und runzelte die Stirn.
»Das ist Dimitri«, erklärte Juniper. Ihre Hände umklammerten immer noch das Fernglas, obwohl es an einer Schnur um ihren Hals hing. »Er erledigt hier eine ganze Menge.«
Als er seinen Namen hörte, unterbrach Dimitri seine Arbeit, sah zu ihnen hinüber und winkte. Er war ein großer Mann mit kräftigen Armen und Schultern und einem langen, dunklen Bart, der von grauen, braunen und orangefarbenen Sprenkeln durchsetzt war. Nachdem er sich über die Augenbrauen gewischt hatte, spuckte er auf den Boden, stemmte seine Fersen in den schlammigen Untergrund und fuhr mit seiner Arbeit fort.
»Meinst du, wir können kurz mit ihm reden? Ich wäre auch gerne so stark wie er.« Giles sah zu Juniper, doch zwischendurch wanderte sein Blick immer wieder zu Dimitri.
Aber Juniper hatte andere Dinge im Kopf. Sie griff nach Giles’ Arm, den sie mit einer Hand fast komplett umfassen konnte, und sagte: »Ich habe darüber nachgedacht, was du gestern erzählt hast. Vielleicht war es richtig, dass du deinen Eltern in den Wald gefolgt bist. Vielleicht führen sie wirklich irgendetwas im Schilde.«
»Meinst du?«
Juniper dachte daran, wie seltsam sich ihre Eltern gestern und all die Tage davor benommen hatten. »Möglich wär’s.«
»Aber wohin sind sie verschwunden?« Giles sah sich um und versuchte, mit einer Handbewegung den gesamten Wald zu umfassen. »Es könnte überall sein. Wir müssten vermutlich tagelang suchen.«
»Stimmt«, sagte Juniper. »Aber ich weiß, wo wir anfangen können. Kurz bevor wir uns gestern getroffen haben, bin ich mit Kitty durch den Wald gelaufen. Wir haben ein Spiel gespielt. Sie läuft weg, und ich versuche, sie aufzuspüren.«
»Du meinst, ihr habt Verstecken gespielt«, sagte Giles.
Juniper sah ihn verständnislos an. Vielleicht hatte sie dieses Wort schon einmal gehört, aber Verstecken gespielt hatte sie mit Sicherheit noch nicht. Nein, ihr Spiel hieß »Hierher, Kitty!«.
»Jedenfalls konnte ich sie eine ganze Weile nicht finden, und als ich gerade zu einer Lichtung gekommen war, hörte ich sie bellen. Irgendjemand war an dieser Stelle gewesen, aber ich konnte mich dort nicht weiter umsehen, weil ich mich um Kitty kümmern musste. Ich bin losgerannt und habe dich entdeckt.«
»Du bist nicht noch einmal zurückgegangen, um der Sache auf den Grund zu gehen?«, fragte Giles.
Juniper schüttelte den Kopf. »Aber wir könnten es jetzt tun. Zusammen.«
Schweigend und gespannt gingen sie in den Wald.
Es dauerte eine Weile, bis Juniper den richtigen Weg fand. Doch mithilfe ihrer Lupe entdeckte sie schließlich ihre eigenen Spuren und ließ sich von ihnen zur Lichtung führen.
Keine einzige Pflanze wuchs an diesem sonderbaren Platz. Als hätte jemand einen perfekten Kreis mitten in den Wald gebrannt. Juniper hatte so etwas noch nie gesehen. Giles schien genauso verdutzt zu sein wie sie.
In der Mitte der Lichtung zogen die Reste eines Lagerfeuers ihre Blicke auf sich. Langsam näherten sich Juniper und Giles dem feuchten Holzstoß. Wer ist hier draußen gewesen?, fragte sich Juniper. Stalker? Ihre Eltern hatten in letzter Zeit ziemliche Probleme mit aufdringlichen Fans gehabt.
Als sie gegen die verkohlten Zweige trat, bemerkte sie noch etwas. Es sah aus wie verbranntes Papier. Sie ging in die Hocke und hob einen der verstreut herumliegenden Schnipsel auf. Es war eine Seite aus einem Tagebuch; oben befand sich ein Teil eines Datums, der soundsovielte April, aber der Rest war wegen des Feuers und des Regens nicht mehr zu entziffern. Sie hob noch einen Schnipsel auf, genau wie Giles, doch auch darauf war nichts mehr zu erkennen. Dann fand Giles eine Seite, die beinahe unversehrt war. Sie betrachteten sie aufmerksam: ein paar römische Ziffern und verschiedene Symbole, von denen sie keines kannten. Juniper schob einige verkohlte Holzstücke zur Seite. Da! Eine beschriebene Seite! Sie griff danach und begann zu lesen.
Mauern sind Mauern sind Mauern
Und wir sehen, was wir sehen.
Siehst du?
Darüber hinweg ist der einzige Weg
In eine gewöhnliche neue Welt
Nicht immer weiter und weiter und weiter (gehen wir)
Es gibt kein Entweder/Oder
Ich sah betäubte Augen –
O bitte, ich muss krank sein
Morgen, morgen geht die Sonne wieder auf – oder nicht?
Von so hoch oben kann man nur fallen
SCHNELL, SCHNELL, ES WIRD ZEIT
Der Abend kommt immer im falschen Moment
Der Abend kommt immer zur falschen Zeit
Mimimimimimimimimimimimimimimim
Dies sind nicht meine Gedanken
Ich weiß nicht, wer ich bin
Die Worte machten Juniper Angst. Sie klangen wie das Gebrabbel eines Verrückten. Doch das war es nicht, was ihr den Magen umdrehte.
»Das ist die Handschrift meines Vaters«, flüsterte sie. Es war kein Zweifel möglich: die Art, wie sich die Buchstaben neigten und auf den Linien tanzten, die fehlenden Satzzeichen … Und trotzdem fand sie in den Worten keine Spur von ihm. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum war er hier draußen gewesen? Vielleicht hatte er versucht, sich zu verstecken. Aber wovor? Was passierte mit ihm?
»Juniper, sieh dir die Rückseite an!« Giles zeigte verwirrt auf das Blatt.
Juniper drehte die zerrissene Seite um. Hinten auf dem Tagebucheintrag, ganz oben auf die Seite gekritzelt, entdeckte sie dieselben Ziffern und Symbole wie auf dem Zettel davor. Und darunter befand sich die Skizze eines ganz besonderen, auffälligen Vogels.
»Ich kenne diesen Vogel«, sagte Juniper. »Es ist ein Rabe.«
»Es gibt bestimmt viele Raben hier im Wald.«
»Nicht dass ich wüsste. Ich habe bisher nur den einen gesehen.« Sie sah zu Giles. »Und ich weiß genau, wo wir ihn finden.«
Juniper führte ihn durch den Wald bis zu einem Baum, der ganz in der Nähe der Stelle stand, wo sie und Giles sich gestern begegnet waren.
Es war ein hässlicher Baum. Wenn ein Baum hätte gefällt werden sollen, dann wäre es dieses Monstrum gewesen. Seine Zweige waren kahl und spitz. Sie reckten sich in den Himmel, als wollten sie ihn durchbohren, obwohl der Himmel sicher nichts getan hatte, um so einen Angriff zu provozieren. Der Baum war weder besonders dick noch besonders dünn. Er war von Knoten und merkwürdigen Verflechtungen bedeckt. Seine Wurzeln hatten den Boden aufgerissen, das Gras getötet und nur das Unkraut am Leben gelassen. Nichts anderes wuchs von den Wurzeln bis zur Krone. Kein einziges Insekt krabbelte über den Stamm und kein Eichhörnchen nistete in seinen Zweigen.
Doch der Rabe war da. Juniper sah zu ihm hinauf, um ihn zu begrüßen, und der Rabe schien ihr zuzunicken. Er saß auf seinem üblichen Ast, hatte die Flügel bequem angelegt und fixierte die beiden Kinder.
»Haben meine Eltern nach diesem Baum gesucht?«, fragte Giles. »Und kennen deine Eltern ihn auch? Es muss so sein!«
»Keine Ahnung. Das kann doch alles kein Zufall sein, oder? Aber ich kapier’s einfach nicht. Warum sollten sie sich für einen sterbenden Baum interessieren?«
Sie gingen einmal um den Baum herum und inspizierten ihn. Sie zogen an seinen Zweigen, traten gegen die Wurzeln, drückten auf jeden Knoten und kratzten an der Rinde. Schließlich zog Juniper ihr Vergrößerungsglas hervor, um den Baum genauer unter die Lupe zu nehmen.