»Die verändern immer ihre Namen, wissen Sie, damit niemand mitkriegen kann, dass sie Juden sind. Ursprünglich hieß er wahrscheinlich Goldberg oder Goldstein, etwas in der Art.«
Grant setzte zu einer Antwort an, ließ es aber sein. Er und Tavalera saßen an dem einzigen Tisch in der schmierigen, engen Kombüse des Frachters. Tavalera war ein angehender Ingenieur, der seine zweijährige allgemeine Dienstpflicht in der Operationszentrale für die Sammlerschiffe ableistete. Die Operationszentrale war gleichfalls in der Jupiterstation untergebracht. Außer den beiden war niemand in der Kombüse; die Besatzungsmitglieder waren alle auf ihren Arbeitsstationen. Die Speise- und Getränkeautomaten waren um diese Stunde kalt und leer, das stählerne Schott und die Zwischenwände sahen ebenso wie der Kunststoffboden narbig, abgenutzt, verschrammt und alt aus.
Grant hatte sein Studium des Riesenplaneten unterbrochen, um eine Erfrischungspause in der Kombüse zu verbringen. Die meiste Zeit der eintönigen und langwierigen Ausreise zur Forschungsstation Gold brachte er mit Fachliteratur über Jupiter und sein Gefolge von Monden zu, um sich ein Bild von den Forschungsvorhaben der Wissenschaftler dort draußen zu machen.
Tavalera war kurz nach Grant in die Kombüse gekommen, anscheinend ohne einen anderen Zweck als den, ein Gespräch anzufangen.
Wollte er andeuten, dass Marjorie Jüdin sei? fragte sich Grant. Er hatte einen erfreulichen Zufall darin gesehen, dass die Forschungsstation den gleichen Namen wie seine Frau trug. Zwar wusste er, dass es keinen Zusammenhang gab, doch hielt er die Koinzidenz nichtsdestoweniger für ein gutes Omen. Nicht dass er an Omina glaubte. Das wäre Aberglaube und daher sündhaft. Aber er brauchte etwas, das ihn während dieser langen, langsamen und überaus langweiligen Reise hinaus zum Jupitersystem Auftrieb verschaffen konnte.
Grant hatte gedacht, man würde ihn an Bord eines der neuen Schiffe mit Fusionsantrieb zum Jupiter bringen, die auf dem größten Teil der Strecke beschleunigten und die Reisedauer auf ein paar Wochen verkürzten. Darin sah er sich getäuscht. Rangniedriges Personal, zu dem auch Studenten zählten, reiste auf die billigste Weise, was bedeutete, dass er und Tavalera den größten Teil eines Jahres an Bord dieses alten Eimers zubringen mussten. Was Grant aber am meisten verblüfft hatte, war die Erkenntnis, dass die Reise nicht auf seine Dienstzeit angerechnet wurde.
»Dienst an der Gemeinschaft«, sagte der zuständige Sachbearbeiter der Neuen Ethik, ein gereizt aussehender junger Mann mit verkniffener Miene, als Grant sich für die Reise eintragen ließ, »bedeutet genau das, was die Worte sagen: Dienst an der Gemeinschaft. Der Flug in einem Raumschiff ist keine Dienstzeit sondern Freizeit.«
Grant legte Widerspruch bei der nächsthöheren Instanz ein und ging bis zum Nationalen Officium, aber alles, was seine Bemühungen ihm eintrugen, war ein Ruf als Querulant. Nicht einmal Gebete halfen. Reisezeit war nach den Bestimmungen Freizeit.
Schöne Freizeit, dachte Grant. Das Schiff war alt und langsam, düster und bedrückend. Seine Wohneinheit rotierte an einem langen teleskopischen Rohr um den massiven Rumpf mit den Frachträumen, sodass Besatzung und Passagiere eine simulierte Schwerkraft genossen, die ungefähr die Hälfte der irdischen ausmachte. Grants und Tavaleras so genannte Zweibettkabine bestand aus einem engen Abteil mit zwei übereinander hineingezwängten Schlafkojen. Grant hatte die untere, wo kaum zehn Zentimeter zwischen seiner Nase und Tavaleras durchhängender Matratze waren.
Der deprimierende, heruntergekommene Erzfrachter hatte nicht einmal eine Nische irgendwo an Bord, die als Kapelle dienen konnte. Grant musste seine Sonntagsandachten mit Videos von Gottesdiensten seines Vaters in der tristen Kombüse verrichten und dabei hoffen, dass weder Tavalera noch eines der Besatzungsmitglieder hereinplatzen würde.
Der grantige, grauhaarige Kapitän knurrte Grant an, wann immer sie einander begegneten. »Hauptsache, Sie sind uns hier nicht im Weg, Sie Schlaumeier«, waren noch die freundlichsten Worte, die Grant von ihm zu hören bekam. Die sechsköpfige Besatzung ignorierte die Passagiere vollständig. Sie alle gebrauchten eine Ausdrucksweise, die sie daheim vor den örtlichen Schicklichkeitsausschuss gebracht hätte.
Also verfasste Grant lange und einsame Videobotschaften an Marjorie, wo immer sie sich aufhalten mochte, in Uganda oder Brasilien oder den Ruinen Kambodschas. Gespräche in Echtzeit waren unmöglich: bedingt durch die wachsende Entfernung von der Erde, benötigten Funksignale mehr und mehr Zeit zur Überbrückung der zunehmenden Distanz. Dies führte zu Verzögerungen in der Kommunikation, die jeden Versuch, ein wirkliches Gespräch zu führen, bald zunichte machten. Marjorie schickte ihm Botschaften, nicht so oft, wie er ihr welche schickte, aber natürlich hatte sie viel mehr zu tun. Sie wirkte immer munter und hoffnungsvoll und beendete jede Botschaft damit, dass sie die Zahl der Stunden bis zu Grants Rückkehr zur Erde nannte.
»Es sind noch zweiunddreißigtausendeinhundertundsiebzehn Stunden, bis wir wieder zusammen sind, Liebling«, sagte sie. »Und jede Sekunde bringt dich mir näher.«
Jedes Mal wenn er an die Zahl dachte, war Grant zum Weinen zumute.
Er suchte Zuflucht bei seinen Fachbüchern, saß oft stundenlang im engen, schmutzigen kleinen Aufenthaltsraum des Frachters, der tatsächlich nichts weiter war als ein Abteil mit Metallwänden, kaum geräumig genug, um einen festgeschraubten Tisch und vier der unbequemsten Plastikstühle im Sonnensystem aufzunehmen. Über die Verbindung seines Taschencomputers mit dem in die Wand eingelassenen Bildschirm rief er die Fachliteratur über Jupiter ab und hatte sich bald daran gewöhnt, den größten Teil seiner Zeit dort zu verbringen. Das klaustrophobisch enge Schlafabteil überließ er Tavalera und suchte es nur auf, wenn er zu müde wurde, die Augen offen zu halten.
Von Zeit zu Zeit kamen Besatzungsmitglieder herein, aber meistens überließen sie Grant ohne ein Wort seinen Studien. Nur der Kapitän unterbrach ihn dann und wann und benutzte die Gelegenheit zu mürrischen Bemerkungen über studentische Schnorrer, die an Bord zu nehmen er gezwungen sei. Für ihn war Grant eine unnötige Last, ein unnützer Verbraucher der Bordvorräte an Luft und Nahrung. Tavalera hingegen war besser angesehen; wenigstens war er ein Ingenieur, und man konnte erwarten, dass er draußen im Jupitersystem lohnende Arbeit verrichten würde. Grant aber war nichts als ein Möchtegern-Wissenschaftler, der in einer Forschungsstation herumspielen würde, statt nützliche Arbeit zu tun.
Grant ignorierte die Feindseligkeiten so gut er konnte und setzte hartnäckig seine Studien fort. Er wollte alles über Jupiter wissen, was es zu wissen gab, wenn er in der Station Gold anlangte. Da es ihm nun einmal beschieden war, vier Jahre dort zu verbringen, wollte er vier produktive Jahre daraus machen, und nicht bloß als ein Schnüffler für die Neue Ethik das Tun und Lassen anderer beobachten.
Tavalera hatte einen spöttischen Ausdruck in seinem gewöhnlich trübsinnigen Gesicht; er bleckte die Pferdezähne in einem seltenen Grinsen.
»Finden Sie sich damit ab, Mann, Sie haben eine Jüdin geheiratet.«
Grant unterdrückte aufkommenden Ärger. »Sie ist keine Jüdin, und selbst wenn sie es wäre, was für einen Unterschied würde das machen?«
Tavalera beugte sich über den schmalen Tisch, bis er ihm so nahe war, dass Grant seinen unangenehmen Atem riechen konnte. In einem halb verschwörerischen Flüsterton antwortete er: »Die Sache ist die, dass sie nichts von Sex nach der Eheschließung halten.«
Er hob den Kopf, stieß sich vom Tisch zurück und brach in lautes, bellendes Gelächter aus. Grant starrte ihn an. War Tavalera deswegen gekommen und hatte dieses Gespräch angefangen? Nur um ihn zur Zielscheibe eines abgestandenen alten Witzes zu machen? Noch lachend, zeigte Tavalera auf Grant. »Sie sollten Ihr Gesicht sehen, mein Lieber! Köstlich! Feine Aussichten, wie?«