Dr. Wo blickte zu Grant auf, ein seltsames kleines Lächeln um die Lippen.
»Mr. Archer, die Ärzte sagen mir, dass Sie von Ihren Verletzungen völlig wiederhergestellt sind.«
Grant nickte, überflutet von Erleichterung, dass sie nicht im Begriff waren, ihn zu ermorden.
»Ich werde die Station morgen verlassen. Ich bin als Direktor hier abgelöst worden.«
»Sie verlassen die Station?«, platzte Grant heraus. »Man hat Sie hinausgeworfen?«
Zu seiner Überraschung grinste Wo ihn an. »Man hat mich die Treppe hinaufgeworfen. Es ist ein Kompromiss, der zwischen der Neuen Ethik und der IAB ausgehandelt worden ist. Ich werde zur IAB-Zentrale in Zürich gehen und die Leitung des gesamten astrobiologischen Programms übernehmen.«
»Aber die Arbeit hier … die Jovianer …«
»Diese Arbeit fortzusetzen, ist Ihre Aufgabe. Und Dr. Muzorawas, wenn er zurückkehrt.«
»Er wird zurückkehren?«
»Sobald er wiederhergestellt ist, ja. Ich habe ihn zu meinem Nachfolger ernannt. Sowohl die IAB als auch die verschiedenen religiösen Gruppen haben zugestimmt. Aber er wird nicht an weiteren Expeditionen in den Ozean teilnehmen.«
Grant dachte darüber nach. Zeb würde zurückkommen und Stationsdirektor sein. Und von ihm wurde erwartet, dass er das Studium der Jovianer fortsetze.
»Dann hat die Neue Ethik unsere Arbeit nicht vollständig abgewürgt«, sagte er nachdenklich.
»Wie könnte sie? Die ganze Welt beobachtet uns jetzt, dank Ihres Einsatzes. Manche sind furchtsam, viele sind neugierig. Sie haben ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen, Mr. Archer.«
»Nicht ich. Ich habe nicht …«
»Sie hatten die Geistesgegenwart, die Forschungsergebnisse weltweit auszustrahlen. Niemand konnte unsere Entdeckungen geheim halten, nachdem die Datenkapseln Ihre Informationen verbreitet hatten.«
Grants Beine fühlten sich zu schwach, ihn aufrecht zu halten. Er lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Metallwand und glitt daran abwärts, bis er saß.
»Die religiösen Fanatiker sind sehr zornig auf Sie, Mr. Archer«, sagte Dr. Wo. »Die Zeloten möchten Ihnen das Lebenslicht ausblasen.«
»Was würde es ihnen nützen?«
»Nicht viel, aber sie sind wütend und frustriert. Eine schlimme Kombination.«
Grant erinnerte sich plötzlich. »Sie haben auch Irene Pascal umgebracht, nicht wahr?«
Wos Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Dr. Pascals Tod war ein Unfall. Ein unbeabsichtigter Selbstmord.«
»Nein«, sagte Grant.
»Ja«, beharrte Wo. »Sie nahm eine Überdosis Amphetamine, die unter den Hochdruckverhältnissen an Bord der Tauchsonde zu ihrem Tode führten.«
»Irene nahm die Drogen nicht wissentlich«, sagte Grant.
»Eine Untersuchungskommission hat den Vorfall geprüft. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Unfall handelte. Der Fall ist abgeschlossen.«
»Es war kein Unfall«, beharrte Grant. »Es war Mord!«
Stählerne Härte kam in Wos Stimme. »Nein, Mr. Archer. Lassen Sie die Sache auf sich beruhen.«
»Aber ich weiß …«
»Der Fall ist abgeschlossen!«
Einen langen Moment starrten die beiden einander an, Auge in Auge. Grant konnte nicht ergründen, was in Wos Gehirn vorging, aber er kannte seine eigenen Gedanken. Für Dr. Wo und seine Untersuchungskommission mochte der Fall abgeschlossen sein, aber er war es nicht für ihn. Er wusste, dass Irene ermordet worden war, und er wusste, wer der Täter war.
»Die IAB hat Dr. Indra Chandrasekhar als Interimsdirektorin hier eingesetzt.«
Grant überwand seinen inneren Aufruhr. »Chandrasekhar? Ich kenne sie nicht.«
»Ihre Bekanntschaft ist kein Erfordernis für die Position«, sagte Wo mit dünnem Lächeln.
Grant schwieg.
»Sie hat die Studien der Galileischen Monde geleitet. Eine sehr gute Führungskraft. Sie entstammt einer langen Reihe ausgezeichneter Wissenschaftler.«
»Sie wird die Leitung der Station übernehmen, bis Dr. Muzorawa zurückkehrt?«
»Ja, und Sie werden die Studien der jovianischen Lebewesen leiten, die Sie im Ozean fanden«, sagte Wo. »Ob sie intelligent sind oder nicht.«
»Sie sind intelligent. Davon bin ich überzeugt.«
»Gut! Nun brauchen Sie nichts weiter zu tun als es so vollständig zu beweisen, dass der Rest der Welt es glauben wird.«
»Einschließlich der Neuen Ethik?«
Wo lachte. »Die Neue Ethik, die Jünger Gottes, das Licht Allahs … sogar die religiösen Fanatiker.«
Grant nickte. Er nahm die Herausforderung an. Als Erstes galt es, die aufgezeichneten Daten zu untersuchen, um durch Analysen und Vergleiche vielleicht die Bedeutung der Lichtsignale zu erschließen, mit denen die Wale sich untereinander verständigten. Währenddessen musste die Zheng He repariert oder vielleicht eine neue Tauchsonde gebaut werden …
Dr. Wo unterbrach seinen Gedankengang. »Es wird notwendig sein, dass Sie hierbleiben.«
»Ja, das ist mir klar.«
»Natürlich haben Sie Anspruch auf Urlaub von Ihrer Dienstpflicht. Sie könnten ihn in der Heimat verbringen, wenn Sie es wünschen.«
»Aber die Arbeit wird hier getan.«
»Genau. Und offen gesagt, sind Sie hier viel sicherer als auf Erden, wo es keinen zuverlässigen Schutz vor Mordanschlägen fanatischer Zeloten gibt.«
Es gibt eine religiöse Fanatikerin hier in dieser Station, dachte Grant. Mindestens diese eine. Und ich kenne sie.
»Beech hält mich ohne Verbindung zur Außenwelt«, sagte Grant. »Karlstad und die Frauen auch. Ich kann nicht einmal meiner Frau eine Botschaft zukommen lassen.«
Dr. Wo nickte wissend. »Ich habe dafür gesorgt, dass Sie sich in der Station frei bewegen können. Sie brauchen nicht in der Krankenstation zu bleiben. Was Botschaften in die Heimat betrifft …« Er zuckte die Achseln. »Ich fürchte, dass Mr. Beech in Kommunikationsangelegenheiten die Oberhand hat.«
Grant starrte ihn an. Er begriff, dass ein Machtkampf zwischen Wo und Beech im Gang war. Keine der beiden Seiten hatte vollständig freie Hand. Und er war sowohl Gegenstand als auch Opfer ihres Machtkampfes.
»Nun gut, Mr. Archer«, unterbrach Dr. Wo seinen Gedankengang. »Sie haben noch einen letzten Abschied zu nehmen.«
»Abschied?«
Wo zeigte zu Sheenas dunkler Nische.
»Sheena verlässt die Station?«
»Wir brauchen sie hier nicht mehr. Vielleicht können die Delphine in Ihren Versuchen, sinnvolle Kontakte mit den Jovianern herzustellen, von Nutzen sein, aber Sheena ist uns zu ähnlich, um Ihnen bei Ihrer Arbeit zu helfen.«
»Was wird mit ihr geschehen?«
Wo seufzte. »Das Einfachste wäre, sie zu opfern. Dann könnten wir ihr Gehirn sezieren und …«
»Nein!«, rief Grant aus.
Dr. Wo hob beschwichtigend die Hände. »Ich stimme Ihnen zu, es wäre eine verbrecherische Handlung. Nein, ich werde Sheena mitnehmen und einem Zentrum für Primatenforschung in Kinshasa übergeben. Dort ist man sehr daran interessiert, sie zu haben.«
»Und dort wird sie es gut haben?«
»Sie wird sehr willkommen sein. Man hat dort mehrere andere Primaten mit erweiterten Fähigkeiten. Sheena wird dort keine Anomalie sein. Wenn alles gut geht, wird sie die Mutter einer neuen Zucht sein, die Begründerin einer Dynastie, sozusagen. Und eine weitere Herausforderung für die Fundamentalisten.«
»Sie wird dort geschützt sein?«
»Wenn nötig, mit Waffengewalt. Sie ist außerordentlich wertvoll.«
Grant nickte befriedigt. »Dann wird sie unter ihresgleichen sein.«
»Das glaube ich«, sagte Wo.
»Ich wünschte …« Grant konnte den Satz nicht vollenden. Er schluckte und unterdrückte aufkommende Tränen. Es war ihm peinlich, wegen eines Gorillas von Gefühlen überwältigt zu werden.