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«Also schlecht«, nickte er.»Dachte es mir. Und Ihr Büro befindet sich in einer Mansarde in der Spiegelgasse, nicht wahr? Auch schlecht. Ganz schlecht.»

Ich hatte genug und erhob mich.»Entweder teilen Sie mir jetzt mit, was Sie von mir wollen, Herr Kohler, oder ich gehe«, sagte ich grob.

Der vollkommen glückliche Mensch erhob sich ebenfalls, wurde auf einmal mächtig, unwiderstehlich, drückte mich in meinen Sessel zurück, mit beiden Händen, die sich wie Gewichte auf meine Schultern legten.

«Bleiben Sie«, befahl er drohend, beinahe bösartig.

Es blieb mir nichts anderes übrig als zu gehorchen.»Bitte«, sagte ich, hielt mich still. Auch der Wärter.

Kohler setzte sich wieder:»Sie brauchen Geld«, stellte er fest.

«Das wird hier nicht diskutiert«, antwortete ich.

«Ich bin bereit, Ihnen einen Auftrag zu geben.»

«Ich höre.»

«Ich wünsche, daß Sie meinen Fall aufs neue untersuchen.»

Ich stutzte:»Das heißt, Sie wünschen einen Revisionsprozeß, Herr Kohler?»

Er schüttelte den Kopf.»Wenn ich einen Revisionsprozeß anstreben würde, müßte meine Strafe nicht in Ordnung sein, aber sie ist in Ordnung. Mein Leben ist abgeschlossen, zu den Akten gelegt. Ich weiß, daß mich der Zuchthausdirektor bisweilen für einen Heuchler hält und Sie, Spät, wohl auch. Verständlich. Aber ich bin weder ein Heiliger noch ein Teufel, ich bin einfach ein Mensch, der draufgekommen ist, daß man zum Leben nichts weiter als eine Zelle braucht, kaum mehr als zum Sterben, da genügt ein Bett, noch später ein Sarg, denn die menschliche Bestimmung liegt im Denken, nicht im Handeln. Handeln kann jeder Ochse.»

«Schön«, sagte ich,»das sind lobenswerte Prinzipien. Aber nun soll ich für Sie handeln, Ihren Fall noch einmal untersuchen. Darf der Ochse fragen, was Sie im Schilde führen?»

«Ich führe nichts im Schilde«, antwortete Dr.h.c. Isaak Kohler schlicht.»Ich denke nach. Über die Welt, über die Menschen, vielleicht auch über Gott. Aber dazu brauche ich Material, sonst bewegt sich mein Denken im Leeren. Was ich von ihnen verlange, ist nichts als eine kleine Hilfe zu meinen Studien, die Sie ruhig als Hobby eines Millionärs betrachten können. Auch sind Sie nicht der einzige, den ich um solche kleine Handlangerdienste bitte. Kennen Sie den alten Knulpe?»

«Den Professor?»

«Den.»

«Ich habe bei ihm noch studiert.»

«Sehn Sie. Der ist nun pensioniert, und damit er mir nicht dahinsärbelt, habe ich ihm auch einen Auftrag gegeben. Er arbeitet an einer Untersuchung: Folgen eines Mordes. Er stellt die Auswirkungen fest, die das etwas gewaltsame Ableben seines Kollegen gehabt hat und noch hat. Hochinteressant. Es macht ihm einen Riesenspaß. Es gilt, die Wirklichkeit auszuloten, die Wirkungen einer Tat exakt auszumessen. Was nun Ihre Aufgabe angeht, mein Bester, so ist sie anderer Art, der Arbeit Knulpes gewissermaßen entgegengesetzt.»

«Inwiefern?»

«Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen.»

«Ich verstehe nicht.»

«Sie haben eine Fiktion aufzustellen, nichts weiter.»

«Aber Sie sind nun einmal der Mörder, da ist diese Fiktion doch sinnlos«, erklärte ich.

«Nur so ist sie sinnvoll«, antwortete Kohler.»Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, das tut der brave Knulpe, sondern eine der Möglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen. Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir kaum. Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.»

Ich lachte:»Ein merkwürdiger Gedankengang, Herr Kohler.»

«Man sinniert sich eben einiges aus hierzulande«, sagte er.»Sehen Sie, Herr Spät, oft in der Nacht, wenn ich die Sterne zwischen den Gitterstäben im Fenster erblicke, überlege ich mir, wie denn die Wirklichkeit aussähe, wenn nicht ich, sondern ein anderer der Mörder wäre. Wer wäre dieser andere? Diese Fragen will ich von Ihnen beantwortet haben. Als Honorar zahle ich dreißigtausend, fünfzehn als Vorschuß.»

Ich schwieg.

«Nun?«fragte er.

«Es klingt nach Teufelspakt«, antwortete ich.

«Ich verlange nicht Ihre Seele.»

«Vielleicht doch.»

«Sie riskieren nichts.»

«Möglich. Aber ich sehe den Sinn dieser Angelegenheit nicht ein.»

Er schüttelte den Kopf, lachte.

«Es genügt, daß ich den Sinn sehe. Um das Weitere haben Sie sich nicht zu kümmern. Was ich von Ihnen verlange, ist nichts als die Annahme eines Vorschlags, der in keiner Weise das Gesetz verletzt, und den ich zur Erforschung des Möglichen benötige. Die Spesen werden selbstverständlich von mir übernommen. Setzen Sie sich mit einem Privatdetektiv in Verbindung, am besten mit Lienhard, zahlen Sie ihm, was er will, Geld ist genug da, gehen Sie überhaupt so vor, wie Sie wollen.»

Ich überlegte mir aufs neue den merkwürdigen Vorschlag. Er gefiel mir nicht, ich witterte eine Falle, vermochte sie aber nicht zu entdeсken.

«Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«fragte ich.

«Weil Sie nichts von Billard verstehen«, antwortete er gelassen.

Nun hatte ich mich entschieden.

«Herr Kohler«, antwortete ich,»dieser Auftrag ist mir zu undurchsichtig.»

«Geben Sie meiner Tochter Bescheid«, sagte Kohler und erhob sich.

«Da gibt es nichts zu überlegen, ich lehne ab«, sagte ich und erhob mich ebenfalls.

Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glücklich, rosig.

«Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund«, sagte er,»ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die benötigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Möser, gehen wir wieder Körbe flechten.»

Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glücks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hände von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen.

Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fühlte, daß mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besaß, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Würde meines Berufs, eine bloße Gelegenheit, auf eine törichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmähte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Möglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins >Select<, später auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch später zum Quai zu begeben. In der Haustüre grüßte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinüber, einige Schritte, eine Lächerlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an diesem föhnigen, drückenden, für unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard.

a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (>Kapitalismus als geistiges Abenteuer<, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (>Marxistischer Humanismus des Diesseits<, Europa-Verlag, 1939), beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum für die USA, Moses Staehelin keines für die UdSSR, er hatte sich scharf gegen die» instinktiven marxistischen Tendenzen «der Vereinigten Staaten geäußert, sie noch unbarmherziger über den» kleinbürgerlichen Verrat «der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein Lastwagen des Abbruchgeschäfts Stürzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfügung, die das Begräbnis nicht unerheblich erschwerte.