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«Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grüßte nicht zurück, blinzelte nur mißtrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg.

«Ich weiß nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor«, sagte ich etwas entmutigt.

«Doch, doch«, antwortete Knulpe.»Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden?»

«Längst, Herr Professor.»

«Rechtsanwalt geworden?»

«Jawohl, Herr Professor.»

«Tüchtig, tüchtig. Wohl Sozi, wie?»

«Teils, Herr Professor.»

«Ein wackerer Sklave des Kapitals, he?«fragte Carl Knulpes Frau.

«Teils, Frau Professor.»

«Haben wohl etwas auf dem Herzen«, stellte Carl Knulpe fest.

«Jawohl, Herr Professor.»

«Begleiten Sie uns«, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den >Pfauen<, den Brief hatte ich nun doch noch nicht eingeworfen, aus einer momentanen Vergeßlichkeit heraus, aber es gab ja noch viele Briefkästen.

«Nun?«fragte er.

«Ich besuchte Dr.h.c. Isaak Kohler, Herr Professor. Im Zuchthaus.»

«So, so. Waren bei unserem kreuzfidelen Mörder. Ei, ei, beorderte er Sie auch zu sich?»

«Gewiß.»

Bald fragte der eine, bald fragte die andere.

«Ist er immer noch glücklich?»

«Und wie!»

«Strahlt er noch immer?»

«Und ob!»

Wir kamen an einem weiteren Briefkasten vorbei. Eigentlich wollte ich nun stehenbleiben, den Absagebrief einwerfen, doch Knulpes gingen weiter, ahnungslos, mit großen hastigen Schritten. Ich mußte laufen, um mitzuhalten.

«Kohler hat mir erzählt, Sie hätten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor«, sagte ich.

«Eigenartig? Weshalb eigenartig?»

«Herr Professor! Hand aufs Herz: daß Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen läßt, ist doch eine gar zu verrückte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und läßt dann noch soziologische Studien darüber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten.»

«Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief.»

«Da muß doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei!«rief ich aus.

Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so daß ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen mußte. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrüstet an, rückte eng an ihren Gatten und somit auch an mich.

«Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male können die Folgen eines Mordes in der bürgerlichen Gesellschaft mit methodischer Gründlichkeit untersucht und erschöpfend dargestellt werden! Dank unseres fürstlichen Mörders. Eine Riesenchance! Zusammenhänge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle. Nicht verwunderlich. Alles hängt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer stützt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fällt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang.»

«Entschuldigen, ein Auto.»

Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Straße getreten, und ein Taxi mußte scharf bremsen. Es war überfüllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal blaß.

«Gänzlich gleichgültig«, sagte er,»statistisch unerheblich, ob wir überfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zählt, nur die Wissenschaft.»

Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung:»Um mich wäre es schade gewesen«, behauptete sie.

Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen.

«Mord ist Mord, gewiß, doch für einen Wissenschaftler ist er ein Phänomen, das wie alle anderen Phänomene erforscht werden muß. Bis jetzt hat man sich darauf beschränkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen für die Alma mater, ein Segen für die ganze Universität, dieser Mord, man möchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natürlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lücke, die Winter hinterließ, strömt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rückständiges Element, wie schon Shakespeare sagte: >Der Winter unseres Mißvergnügens<, aber ich will weder lästern noch kalauern, stelle einfach dar, liefere Fakten, junger Mann, Fakten und nichts weiter.»

Wir waren beim >Pfauen< angelangt.

«Gott befohlen, Herr Rechtsanwalt«, sagten Knulpes und verabschiedeten sich.»Habe jemand Wichtiges von der ETH zu treffen«, fügte er noch bei,»habe nun auf diesem Terrain nachzuforschen, Winters Einfluß auf die Schulkommission stellt schon ein Kapitel für sich dar, wittere Sensationen. Kann rosig werden. «Am Eingang zum Restaurant kehrten sie sich noch einmal um, hoben den Finger:»Wissenschaftlich denken, junger Mann, wissenschaftlich denken. Das müssen Sie noch lernen. Auch als Rechtsanwalt, mein Bester«, sagte Frau Professor Knulpe, alias Moses Staehelin. Sie verschwanden, und meinen Brief hatte ich noch immer nicht eingeworfen.

b) Architekt Friedli: saß neben ihm kurz darauf im >Select<, den Brief immer noch in der Tasche. Select: Café, vor dem man sitzt und sitzen bleibt, seit jeher, seit ewig, oder doch seit Jahrmillionen, als noch die Brontosaurier den Fluß hinunterwateten, saß man schon da. Friedli kannte ich von meiner Stüssi-Leupin-Zeit her, er hatte bisweilen Schwierigkeiten mit seinen Bodenspekulationen, doch konnte ihn nichts hemmen, er war und ist noch die Fettlawine, die unsere Stadt reinfegt, so daß in den Schneisen sich Geschäftshäuser, Appartementhäuser, Mietshäuser neu erheben, nur teurer als vorher, zu entsprechend fetten Preisen. Die Naturkatastrophe näher besehen: fünfzigjährig, schwitzende enorme Speckwülste, die Augen klein und funkelnd, irgendwo hineingesteckt, die Nase winzig, auch die Ohren, sonst alles riesig, Selfmademan, ein Kind der Langstraße (meine Alte, lieber Spät, ist zu fremden Leuten waschen gegangen, mein Alter hat sich zu Tode gesoffen, habe noch selber bei der Beerdigung eine Flasche Bier in sein Grab gegossen), nicht nur Radsportmäzen, ohne dessen Sonderpreise kein Sechstagerennen denkbar ist, an dem er inmitten des Hallenstadions thronend Unmengen von St.-Galler-Schüblig und Wienerwürstchen verschlingt, sondern auch Musikförderer, dank dessen das Tonhalleorchester und unser Opernhaus nicht ins ganz und gar Mittelmäßige sinken, der Klemperer, Bruno Walter, ja sogar Karajan verlockte, bei uns zu dirigieren, und jetzt Mondschein protegiert, so daß er unsere Stadt, die er durch Neu- und Umbauten so gründlich verschandelt, wenigstens wieder etwas musisch verklärt.