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Sie schaute mich verwundert an.»Wie soll ich das verstehen, Herr Spät?«fragte sie.

«Ich habe mich in diesem Raum umgeschaut, Fräulein Kohler. Ihr Vater liebte sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Bücher…»

«Nur das«, sagte sie bestimmt.

«Eben…»

«Gerade deshalb ist er doch unfähig, einen Mord zu begehen«, unterbrach sie mich.»Er mußte auf eine schreckliche Weise dazu gezwungen worden sein.»

Ich schwieg. Ich fühlte, daß es unanständig gewesen wäre, mit der Wahrheit wie mit einer Kanone aufzufahren. Daß ihr Vater mordete, weil er nichts als sein Billard und seine naturwissenschaftlichen Studien liebte, diese abstruse, blödsinnige Wahrheit konnte ich ihr nicht klarmachen. Es war Unsinn, von meiner Vision zu reden, sie war eine Intuition, keine beweisbare Tatsache.

«Über den Grund dessen, weshalb Ihr Vater verurteilt worden ist, Fräulein Kohler, bin ich nicht informiert«, erklärte ich deshalb vorsichtig,»ich meine etwas anderes. Etwas, was nicht seine Tat, sondern den Auftrag erklärt, den er mir zumutet. Ihr Vater will durch diesen Auftrag das Mögliche erforschen. Das ist sein wissenschaftliches Ziel, wie er behauptet. Ich habe mich strikt daran zu halten.»

«Kein Mensch kann das glauben!«rief Hélène erregt aus.

Ich widersprach.

«Ich habe es zu glauben«, erklärte ich,»denn ich habe den Auftrag angenommen. Er ist für mich ein Spiel, das sich Ihr Vater leisten kann. Andere halten sich Rennpferde. Ich halte das Spiel Ihres Vaters als Jurist für weitaus spannender.»

Sie überlegte.

«Ich bin sicher«, antwortete sie endlich zögernd,»daß Sie den wirklichen Mörder finden werden, jemand, der Papa gezwungen hat zu morden. Ich glaube an Papa.»

Ihre Verzweiflung tat mir leid. Ich hätte ihr gerne geholfen, aber ich war machtlos.

«Fräulein Kohler«, antwortete ich,»ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, daß ich diesen Jemand finden werde. Aus dem einfachen Grunde, weil es diesen Jemand nicht gibt. Ihr Vater läßt sich nicht zwingen.»

«Sie sind sehr ehrlich zu mir«, sagte sie leise.

«Ich möchte, daß Sie mir vertrauen.»

Sie starrte in mein Gesicht, aufmerksam, finster. Ich wich ihrem Blick nicht aus.

«Ich vertraue Ihnen«, sagte sie dann.

«Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie jede Hoffnung aufgeben«, sagte ich.»Ihr Vater ist ein Mörder. Sie können ihn nur begreifen, wenn Sie nicht in der falschen Richtung suchen. In Ihrem Vater ist der Grund seines Verbrechens zu suchen, nicht in jemand anderem. Kümmern Sie sich nicht mehr um seinen Auftrag. Er ist meine Angelegenheit.»

Ich stand auf. Sie erhob sich ebenfalls.

«Warum haben Sie den Auftrag angenommen?«fragte Hélène.

«Weil ich Geld benötige, Fräulein Kohler. Machen Sie sich keine falsche Vorstellung von mir. Mag Ihr Vater auch einen wissenschaftlichen Wert in diesem Auftrag sehen, für mich ist er nur eine Möglichkeit, meine Praxis in Fahrt zu bringen, aber Ihnen darf er keine falsche Hoffnung erwecken.»

«Ich verstehe«, sagte sie.

«Ich kann es mir nicht leisten, anders zu handeln, als ich nun handle, ich muß dem Wunsch Ihres Vaters gehorchen. Aber Sie müssen wissen, wem Sie vertrauen.»

«Gerade Sie werden mir helfen«, sagte Hele-ne und reichte mir die Hand.»Ich bin glücklich, Sie kennengelernt zu haben.»

Vor dem Park wartete Lienhard immer noch in seinem Porsche, aber auf dem Beifahrersitz, rauchte immer noch Zigaretten, abwesend, in sich versunken.

«In Ordnung«, sagte ich.»Ich habe den Auftrag angenommen.»

«Auch den Scheck?«fragte er.

«Auch.»

«Schön«, sagte Lienhard.

Ich nahm am Steuer Platz. Lienhard bot mir eine Zigarette an, gab mir Feuer. Ich rauchte, fuhr mit beiden Händen über das Steuerrad, dachte an Hélène und war glücklich. Ich freute mich auf die Zukunft.

«Wie?«fragte Lienhard.

Ich überlegte, fuhr noch nicht an.»Es gibt nur eine Möglichkeit«, antwortete ich.»Für uns ist jetzt Kohler nicht mehr der Mörder. Nun müssen wir mitspielen.»

«Einverstanden.»

«Befragen Sie die Zeugen noch einmal«, fuhr ich fort.»Untersuchen Sie Winters Vergangenheit, welche Bekannten, welche Feinde.»

«Beschäftigen wir uns mit Dr. Benno«, antwortete er.

«Mit dem Olympia-Heinz?«fragte ich verwundert.

«Winters Freund«, erklärte Lienhard.»Und mit Monika Steiermann.»

Monika Steiermann war die Alleinerbin der Hilfswerke Trög AG.

«Warum?«fragte ich.

«Bennos Freundin.»

«Die lassen wir lieber aus dem Spiel«, sagte ich nachdenklich.

«Okay«, antwortete Lienhard. Irgend etwas stimmte nicht.

«Merkwürdig«, sagte ich.

«Was denn?«fragte Lienhard.

«Kohler hat Sie mir empfohlen.»

«Zufall«, sagte Lienhard.

Ich startete und fuhr vorsichtig. Ich hatte noch nie hinter dem Steuerrad eines Porsche gesessen. Auf der Bahnhofsbrücke fragte Lienhard:»Kennen Sie Monika Steiermann, Spät?»

«Ich sah sie nur einmal.»

«Merkwürdig«, sagte Lienhard.

Beim Talacker lud ich ihn aus, fuhr dann aus der Stadt. Irgendwohin. Planlos in den Herbst hinein. Vor das Bild Hélène Kohlers hatte sich das Bild Monika Steiermanns geschoben, ein Bild, das ich vergeblich zu verdrängen suchte.

2

Beginn der Recherchen: Mein besseres Leben begann mit Elan. Schon am nächsten Tag besaß ich das neue Büro und den Porsche endgültig, wenn sich auch der Wagen als älter herausstellte, als ich angenommen hatte, und sich in einem Zustand befand, der den Preis, den Lienhard verlangt hatte, etwas weniger menschenfreundlich erscheinen ließ. Das Büro,war jenes des ehemaligen Olympiasiegers im Fechten und Schweizermeisters im Pistolenschießen, Dr. Benno, gewesen, mit dem es seit langem abwärtsging. Der schöne Olympia-Heinz blieb der Verhandlung fern. Er sei bereit, wie Architekt Friedli erklärte, der mich in aller Herrgottsfrühe hingeführt hatte, mir das Büro zu überlassen, zweitausend im Monat, viertausend als Anzahlung, eine Summe, von der ich nicht wußte, in wessen Tasche sie floß, doch konnte ich das Büro sofort beziehen und nicht nur Bennos Mobiliar übernehmen, sondern auch seine Sekretärin, eine etwas verschlafene Innerschweizerin mit dem außerschweizerischen Namen Ilse Freude, die wie eine französische Bardame aussah, ihr Haar ständig anders färbte, doch erstaunlich tüchtig war; ein Kuhhandel, alles in allem, den ich nicht durchschaute. Dafür waren das Vorzimmer und das Büro am Zeltweg standesgemäß, mit Blick auf die obligaten Verkehrsstockungen, der Schreibtisch vertrauenerweckend, dazu ordentliche Sessel, gegen den Hinterhof eine Küche und ein Zimmer, in das ich meine Couch aus der Freiestraße stellte; ich vermochte mich vom alten Möbel nicht zu trennen. Auf einmal schien das Geschäft in Schwung zu kommen. Eine lukrative Ehescheidung stand in Aussicht, eine Reise nach Caracas winkte im Auftrag eines Großindustriellen (Kohler habe mich empfohlen), Erbstreitigkeiten waren zu schlichten, ein Möbelhändler war vor Gericht zu verteidigen, rentierende Steuererklärungen. Ich war in einer zu unvorsichtigen und beglückten Stimmung, um noch an die Privatdetektei zu denken, die ich in Bewegung gesetzt hatte und deren Bericht ich abwarten wollte, bevor ich den Fall Kohler weiterverfolgte. Dabei hätte mich Lienhard mißtrauischer machen sollen, als ich schon war: der Mann hatte Hintergrund, undurchsichtige Absichten, war mir von Kohler empfohlen worden und allzu begierig gewesen mitzumachen. Er ging gründlich vor. Ins >Du Théâtre< setzte er Schönbächler, einen seiner besten Männer, der am Neumarkt ein altes, doch komfortables Haus besaß. Den Estrich hatte er zu einer Wohndiele ausbauen lassen. Hier war seine gewaltige Diskothek untergebracht. Überall waren Lautsprecher montiert. Schönbächler liebte Symphonien. Seine Theorie (er war voller Theorien): Symphonien zwängen am wenigsten zum Mithören, man könne dazu gähnen, essen, lesen, schlafen, Gespräche führen usw., in ihnen hebe die Musik sich selber auf, werde unhörbar wie die Musik der Sphären. Den Konzertsaal lehnte er als barbarisch ab. Er mache aus der Musik einen Kult. Nur als Hintergrundmusik sei die Symphonie statthaft, behauptete er, nur als» Fond «sei sie etwas Humanes und nicht etwas Vergewaltigendes, so habe er die Neunte Beethovens erst begriffen, als er dazu einen Potaufeu gegessen habe, zu Brahms empfahl er Kreuzworträtsel, auch Wiener Schnitzel seien möglich, zu Bruckner Jassen oder Pokern. Am besten jedoch sei es, gleich zwei Symphonien gleichzeitig laufen zu lassen. Das tat er denn auch angeblich. Des Getöses bewußt, das er entfesselte, hatte er für die drei übrigen Parteien des Hauses die Miete nach einem genau berechneten System ausgeklügelt. Die Wohnung unter seiner Wohndiele war die billigste, der Mieter hatte nichts zu bezahlen, nur Musik auszuhalten, stundenlang Bruckner, stundenlang Mahler, stundenlang Schostakowitsch, die mittlere Wohnung kostete das übliche, die unterste war beinahe unerschwinglich. Schönbächler war ein empfindsamer Mensch. Sein Äußeres wies nichts Besonderes auf, im Gegenteil, er schien Außenstehenden als der personifizierte Musterbürger. Er war sorgfältig gekleidet, roch angenehm und war nie betrunken, stand überhaupt mit der Welt auf bestem Fuß. Was seine Nationalität betrifft, so bezeichnete er sich als Liechtensteiner. Das stelle nicht viel dar, pflegte er dazu zu äußern, das gebe er zu, doch brauche er sich wenigstens nicht zu schämen: Liechtenstein sei an der gegenwärtigen Weltlage relativ schuldlos, sehe man davon ab, daß es zu viele Briefmarken drucke, und übersehe man seine finanziellen Kavaliersdelikte; es sei der kleinste Staat, der auf großem Fuße lebe. Auch unterliege ein Liechtensteiner nicht so leicht dem Größenwahn, sich einen besonderen Wert nur aus der Tatsache zuzuschreiben, daß er Liechtensteiner sei, wie dies etwa den Amerikanern, den Russen, Deutschen oder Franzosen zustoße, die a priori des Glaubens seien, ein Deutscher oder ein Franzose sei an sich ein höheres Wesen. Einer Großmacht anzugehören — und für einen Liechtensteiner seien notgedrungen fast alle anderen Staaten Großmächte, sogar die Schweiz —, bringe psychologisch für die davon Betroffenen einen bedenklichen Nachteil mit sich, die Gefahr nämlich, einem bestimmten Verhältnisblödsinn zu erliegen. Diese Gefahr wachse mit der Größe einer Nation. Er pflegte das an einem Mäusebeispiel zu erläutern: Eine Maus, die sich mit sich allein befinde, betrachte sich durchaus noch als Maus, sobald sie sich aber unter einer Million Mäusen wisse, halte sie sich für eine Katze und unter hundert Millionen Mäusen für einen Elefanten. Am gefährlichsten seien jedoch die Fünfzig-Millionen-Mäusevölker (fünfzig Millionen als Größenordnung). Diese beständen aus Mäusen, die sich zwar für Katzen hielten, aber gerne Elefanten wären. Dieser übersteigerte Größenwahn sei nicht nur für die davon betroffenen Mäuse gefährlich, sondern jeweils auch für die ganze Mäusewelt. Das Verhältnis jedoch zwischen der» Mäuseanzahl «und dem von dieser erzeugten Größenwahn nannte er das» Schönbächlersche Gesetz«. Als Beruf gab er Schriftsteller an. Das mochte insofern erstaunen, als er weder einmal etwas veröffentlicht noch je etwas geschrieben hatte. Er leugnete es nicht. Er nannte sich nur schlicht einen» potentiellen Schriftsteller«. Er war um eine Erklärung seines Nichtschreibens nie verlegen. So behauptete er gelegentlich, die Schriftstellerei beginne mit dem» Sinn für Namen«, das sei ihre primäre poetische Bedingung, dazu komme ihre nicht minder moralische, die in der Wahrheitsliebe begründet liege. Überdenke man nun diese beiden Grundbedingungen, so werde klar, daß zum Beispiel ein Titel, >Gedichte von Raoul Schönbächler<, allein schon durch die Vorstellung unmöglich gemacht würde, diese Lyrik müsse wie ein schönes Bächlein dahinplätschern. Man könne freilich einwenden, dann sei der Name Schönbächler zu ändern, doch dann komme man mit dem Prinzip der Wahrheitsliebe in Konflikt. Wo Schönbächler auftauchte, gab es zu lachen. Er war ein guter Kerl, von dem in den Gaststätten viele lebten. Die Zeche ließ er aufschreiben, man schickte ihm die Rechnung jeden Monat zu, was sich zusammenaddierte, mußte beträchtlich sein. Hinsichtlich seines Einkommens war man im unklaren. Seine Angaben über ein großzügiges liechtensteinisches Staatsstipendium konnten natürlich nicht stimmen. Einige behaupteten, er sei der Generalvertreter gewisser Gummiartikel. Auch war nicht zu übersehen, daß er vieles wußte und ein scharfes, stets sorgfältig begründetes Urteil besaß. (Vielleicht war sein Nicht-Schreiben nicht nur Faulheit, wie es schien, vielleicht steckte die Einsicht dahinter, es sei, im Gegensatz zu den vielen, die produzieren, besser, nichts zu produzieren.) Am berühmtesten war jedoch seine Fähigkeit, Gespräche anzuknüpfen, um so mehr als diese Kunst unseren Mitbürgern nicht liegt. Schönbächler dagegen beherrschte sie virtuos. Anekdoten wurden erzählt, Legenden bildeten sich. So soll er auf eine Wette hin (wie der Kommandant steif und fest behauptet) einen Bundesrat, der am Nebentisch mit Mitgliedern der Kantonsregierung beim Vieruhrtee saß, derart in ein Gespräch über die Beziehungen unseres Staates zu Liechtenstein verstrickt haben, daß der Magistrat den Schnellzug nach Bern verfehlt hätten. Möglich. Doch ist den Bundesräten im allgemeinen nicht so viel zuzutrauen. Schönbächler galt im übrigen als harmlos. Daß er Lienhards Agent war, ließ sich niemand träumen. Als es bekannt wurde, war die Bestürzung groß, Schönbächler verließ unsere Stadt und lebt nun mit seiner Diskothek in Südfrankreich, sehr zum Leidwesen unserer Mitbürger, erst letzthin drohte mir einer mit der Faust, zum Glück war ich mit Lucky. Dieses Original nun, Schönbächler, tauchte eines Tages im >Du Théâtre< auf, zur allgemeinen Verwunderung, denn er war sonst dort selten zu sehen. Er bezog einen Tisch und blieb den ganzen Tag. Am nächsten Morgen kam er aufs neue, so eine Woche lang, plauderte mit allen, befreundete sich mit dem Chef de Service und den Kellnerinnen, doch dann verschwand er, war wieder in den alten Stammbeizen anzutreffen, es war anscheinend ein Intermezzo gewesen. In Wirklichkeit hatte Schönbächler die Hauptzeugen noch einmal vernommen. Was jedoch die weiteren Recherchen betrifft, so benutzte Lienhard Feuchting, der zu jenen berüchtigten Elementen zählt, die er in seiner Detektei im Talacker beschäftigt, und den ich damals noch nicht kannte — erst jetzt kenne ich ihn (von der >Monaco-Bar<). Feuchting ist ein unzuverlässiger, übler Bursche, das kann niemand bestreiten, und auch Lienhard bestreitet es nicht, ebensowenig wie die Polizei, die Feuchting schon mehrere Male verhaftet hat (Rauschgift) und dann wieder selber für ihre Recherchen braucht. Feuchting ist ein Spitzel, der sein Metier und sein Milieu kennt. Möglich, daß er einst bessere Tage gesehen, möglich, daß er sogar studiert hat, der Rest, der sich nun durchs Leben pumpt, gaunert, erpreßt, ist erbärmlich. Sein Pech, sagte er (im >Monaco<) zu diesem Thema, trübselig in sein Glas Pernod stierend, sei, daß er kein Russe, sondern Deutscher sei. Deutscher sei hierzulande kein Beruf, möglicherweise in Ägypten oder Saudi-Arabien, hier sei nur Russe einer. Seine Existenz würde in diesem Falle keinen Anstoß erregen, im Gegenteil, als Russe wäre er geradezu verpflichtet, so zu sein, wie er sei: versoffen und ruiniert; aber nicht einmal den Russen zu spielen sei hier möglich, weil er so aussehe wie in französischen Resistance-Filmen ein Deutscher. In diesem Punkt spricht er die Wahrheit. Ausnahmsweise. Er sieht so aus. Er kennt die Ober- und Unterwelt wie kein zweiter, beherrscht die Bar- und Finten-Geographie. Er ve