«Sie wollen Stüssi-Leupins Partner werden?«fragte er.
Ich schaute ihn verwundert an:»Ich denke nicht daran.»
«Er hält viel von Ihnen.»
«Das hat er mich bis jetzt nie merken lassen.»
«Stüssi-Leupin läßt nie etwas merken«, meinte der Alte trocken.
«Sein Fehler«, antwortete ich unbekümmert.»Ich will mich selbständig machen.»
«Das wird schwer sein.»
«Möglich.»
Der Alte lachte:»Sie werden noch Ihre Wunder erleben. Es ist nicht leicht, in unserem Lande allein hochzukommen. — Spielen Sie Billard?«fragte er dann unvermittelt.
Ich verneinte.
«Ein Fehler«, sagte er, betrachtete mich aufs neue nachdenklich, die grauen Augen voll Verwunderung, doch ohne Spott, wie es schien, humorlos und hart, und führte mich zum zweiten Tisch, wo Dr. Benno und Professor Winter spielten, die mir beide bekannt waren, der Professor von der Universität her — er war Rektor, als ich immatrikulierte —, Dr. Benno von der Welt des Nachtlebens her, das in unserer Stadt herrschte, zwar damals nur bis Mitternacht, doch dafür nicht ohne Intensität. Sein Beruf war unbestimmt. Einmal war er Olympiasieger im Fechten — weshalb man ihn den Olympia-Heinz nannte —, einmal Schweizermeister im Pistolenschießen gewesen und war immer noch ein bekannter Golfspieler, einmal hatte er eine Galerie geführt, die nicht rentierte. Jetzt hieß es, er solle der Hauptsache nach Vermögen verwalten.
Ich grüßte, sie nickten.
«Winter ist ein ewiger Anfänger«, sagte Dr.h.c. Kohler.
Ich lachte.»Sie sind wohl ein Meister?»
«Gewiß«, antwortete er ruhig,»Billard ist meine Passion. Geben Sie das Queue mal her, Professor, den Stoß schaffen Sie nicht.»
Professor Adolf Winter gab ihm den Billardstock. Er war ein sechzigjähriger, schwerer, doch eher kleingewachsener Mann, mit leuchtender Glatze, goldener randloser Brille, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen, den er würdevoll zu streichen pflegte, stets sorgfältig, nicht unraffiniert konservativ gekleidet, einer der humanistischen Schwadroneure, die unsere Universität bevölkern, Mitglied des PEN-Clubs und der Usteri-Stiftung, Autor des zweibändigen Schmökers >Carl Spitteler und Hesiod oder Schweiz und Hellas. Ein Vergleich<, Artemis 1940 (als Jurist geht mir seit jeher die philosophische Fakultät auf die Nerven).
Der Kantonsrat bearbeitete die Lederkuppe sorgfältig mit Kreide. Seine Bewegungen waren ruhig und sicher, und so schroff auch seine Sätze fielen, wirkte doch nichts an ihm arrogant, nur bewußt und gelassen, alles deutete auf Macht und Unbeirrbarkeit. Er betrachtete den Billardtisch mit leicht geneigtem Kopf, tat dann den Stoß entschlossen und schnell.
Ich folgte dem Rollen der weißen Kugeln, ihrem Aufprallen und Zurückstoßen.
«A la bande. So muß man den Benno schlagen«, meinte der Kantonsrat, indem er den Billardstock Professor Winter zurückgab.»Kapiert, junger Mann?»
«Ich verstehe nichts davon«, antwortete ich und wandte mich dem Grog zu, den der Kellner auf ein Tischchen gestellt hatte.
«Einmal werden Sie es schon begreifen«, lachte Dr.h.c. Isaak Kohler, nahm eine Zeitungsrolle von der Wand und entfernte sich.
Der Mord: Was sich dann drei Jahre später ereignete, ist bekannt und kann schnell erzählt werden (auch nüchtern brauche ich dabei nicht unbedingt zu sein). Dr.h.c. Isaak Kohler hatte sein Mandat niedergelegt, obschon seine Partei ihn zum Regierungsrat vorschlagen wollte (nicht zum Bundesrat, wie einige ausländische Zeitungen schrieben), hatte sich überhaupt aus der Politik zurückgezogen (von seiner Anwaltspraxis schon längst), verwaltete einen Ziegeltrust, der immer weltweitere Dimensionen annahm, linkerhand, amtete als Präsident verschiedener Verwaltungsräte, wirkte auch in einer Kommission der unesco, man sah ihn manchmal monatelang nicht in unserer Stadt, bis er an einem ungebührlich frühlingshaften Märztag im Jahre 1955 den englischen Minister B. durch unsere Stadt führte. Dieser Minister war privat gekommen, man hatte in einer Privatklinik sein Magengeschwür behandelt, nun saß er neben dem Alt-Kantonsrat in dessen Rolls-Royce und ließ sich, bevor er zurückflog, widerwillig doch noch die Stadt zeigen, vier Wochen hatte er sich standhaft geweigert, um sich nun zu fügen, sah gähnend nach den Sehenswürdigkeiten, die sich vorbeischoben, nach der Technischen Hochschule, der Universität, dem Münster, romanisch (der Kantonsrat lieferte Stichworte), der Fluß zitterte in der weichen Luft (die Sonne ging eben unter), der Quai war voller Menschen. Der Minister nickte ein, auf den Lippen noch den Geschmack der unzähligen Kartoffelpürees und der Birchermüeslis, die er in der Privatklinik genossen hatte, während er nun schon von Whisky pur träumte und die Stimme des Kantonsrats wie von weitem hörte, das Rollen des Verkehrs als ein noch ferneres Rauschen; eine bleierne Müdigkeit war in ihm und vielleicht schon die Ahnung, daß die Magengeschwüre doch nicht so harmlos seien.
«Just a moment«, sagte Dr.h.c. Isaak Kohler und ließ den Chauffeur Franz vor dem >Du Théâtre< anhalten, stieg aus, wies ihn an, eine Minute zu warten, deutete noch mit dem Schirmstock mechanisch auf die Fassade» eighteenth Century«, doch reagierte Minister B. überhaupt nicht, döste weiter, träumte weiter. Der Kantonsrat begab sich ins Restaurant, gelangte durch die Drehtüre in den großen Speisesaal, wo ihn der Chef de Service ehrfürchtig begrüßte. Es ging gegen sieben, die Tische waren schon vollbesetzt, man saß beim Abendessen, ein Stimmengewirr, Schmatzen, Besteckgeklimper. Der Alt-Kantonsrat schaute sich um, schritt dann gegen die Mitte des Speisesaales, wo an einem kleinen Tisch Professor Winter saß, mit einem Tournedos Rossini und einer Flasche Chambertin beschäftigt, zog einen Revolver hervor und schoß das Mitglied des PEN-Clubs nieder, nicht ohne vorher freundlich gegrüßt zu haben (überhaupt spielte sich alles aufs würdigste ab), ging dann gelassen am erstarrten Chef de Service, der ihn wortlos anglotzte, und an verwirrten, zu Tode erschrockenen Kellnerinnen vorbei durch die Drehtüre in den sanften Märzabend hinaus, stieg wieder in den Rolls-Royce, setzte sich zum dösenden Minister, der nichts bemerkt hatte, dem nicht einmal das Anhalten des Wagens zum Bewußtsein gekommen war, der, wie gesagt, vor sich hin döste, vor sich hin träumte, sei es von Whisky, sei es von Politik (die Suezkrise schwemmte dann auch ihn weg), sei es von einer bestimmten Ahnung hinsichtlich der Magengeschwüre (vorige Woche stand sein Tod in den Zeitungen, nur kurz kommentiert, und die meisten gaben seinen Namen orthographisch nicht ganz gewissenhaft wieder).
«Zum Flughafen, Franz«, befahl Dr.h.c. Isaak Kohler.
Das Intermezzo seiner Verhaftung: es kann nicht ohne Schadenfreude erzählt werden. Einige Tische vom Ermordeten entfernt tafelte der Kommandant unserer Kantonspolizei mit seinem alten Freund Mock, der, ein Bildhauer, taub und in sich versunken, vom ganzen Vorgang auch später nicht das geringste wahrnahm. Die beiden aßen einen Potaufeu, Mock zufrieden, der Kommandant, der das >Du Théâtre< nicht mochte und es nur selten besuchte, mürrisch. Nichts war nach seinem Geschmack: die Fleischbrühe zu kalt, das Siedfleisch zu zäh, die Preiselbeeren zu süß. Als der Schuß fiel, sah der Kommandant nicht auf, das ist möglich, so wird es jedenfalls erzählt, denn er war gerade dabei, das Mark kunstgerecht aus einem Knochen zu saugen, dann erhob er sich aber doch, stieß dabei sogar einen Stuhl um, den er jedoch als ein Mann der Ordnung wieder auf die Beine stellte. Bei Winter angekommen, lag dieser schon auf dem Tournedos Rossini, die Hand noch um das Glas mit dem Chambertin geschlossen.
«Ist das vorhin nicht der Kohler gewesen?«fragte der Kommandant den noch hilflosen Geschäftsführer, der ihn verstört und bleich anglotzte.
«Jawohl. In der Tat«, murmelte der.
Der Kommandant betrachtete den ermordeten Germanisten nachdenklich, schaute dann finster auf die Platte mit der Rösti und den Bohnen nieder, ließ seinen Blick über die Schüssel mit dem zarten Salat, den Tomaten und Radieschen gleiten.