«Ihr Schirm ist nicht mehr brauchbar, Spät«, meinte neben mir der Kommandant, nahm mir das Stilett mit dem Schirmgriff aus der Hand und wandte sich dem Friedhofsausgang zu.
Der Verkauf: Eine Postkarte Kohlers aus Hiroshima beruhigt mich, er reist nach Singapur. Endlich Zeit, das Entscheidende zu berichten, auch wenn das Entscheidende eine Dummheit ist, die von keiner finanziellen Notlage entschuldigt werden kann. Ich schickte Stüssi-Leupin die Berichte zu, und er empfing mich zwei Tage später im Wohnzimmer seines Heims weit außerhalb der Stadt. Die Bezeichnung Wohnzimmer ist untertrieben, unbewohnte Halle genauer. Der Raum ist quadratisch, ich schätze 20 x 20 Meter, drei Seiten aus Glas, eine Türe nirgends sichtbar, durch die eine der Wände sieht man auf ein altes Städtchen hinunter, das, noch von der Autobahn verschont, von endlosen Autokolonnen durchrollt wird, die in der Abenddämmerung der Landschaft etwas Lebendiges, Gespenstisches geben, Lichterketten ziehen durch die Adern der alten Gemäuer, durch die zwei ändern Glaswände blickt man auf von hinten angestrahlte Findlinge, auf tonnenschwere erratische Blöcke, von Mock sparsam behauen, Granitgötter, die vor den Menschen die Erde beherrschten, die Gebirge aus der Tiefe zerrten, die Kontinente auseinanderrissen, Monolithen, die riesenphallengleich ihre Schatten in die damals leere Halle warfen, denn außer einem Konzertflügel befanden sich ihm in der Diagonale gegenüber nur noch zwei Klubsessel. Der Konzertflügel stand fast vor dem Eingang, denkbar ungünstig postiert, neben einer Holztreppe, die zu einer Empore führt, wo sich mehrere nicht sehr große Zimmer befinden müssen, schien doch das Haus, als ich mit dem Porsche angefahren kam, einstöckig zu sein, vom Städtchen aus gesehen hatte ich es als Bungalow in Erinnerung. In einem der beiden Klubsessel saß mein ehemaliger Chef, in einen Schlafrock gehüllt, unbeweglich, nur von einer Stehlampe zwischen den Sesseln beleuchtet. Ich räusperte mich, er rührte sich nicht, ich ging über die verschieden gefärbten, kunstvoll angeordneten Marmorplatten, womit der Boden der Halle ausgelegt war, Stüssi-Leupin rührte sich immer noch nicht. Ich setzte mich in den anderen Klubsessel, versank in einem Meer von Leder. Neben meinem Klubsessel entdeckte ich auf dem Boden in einem Körbchen eine entkorkte Flasche Rotwein, ein kleines tulpenförmiges Kristallglas und eine Schale mit Baumnüssen, das gleiche stand neben dem etwa vier Meter entfernten Klubsessel, in welchem Stüssi-Leupin saß, nur daß sich vor ihm noch ein Telefon auf dem Boden befand. Ich betrachtete Stüssi-Leupin. Er schlief. Ich dachte an das Porträt von Varlin, das ich für übertrieben gehalten hatte, erst jetzt erkannte ich die Genialität, mit welcher der Maler den Anwalt gesehen hatte: unter einem wirren Fell schlohweißer Haare ein quadratischer Bauernschädel, brutal zurechtgehauen, eine Nase wie ein knolliges Gewächs, tiefe Furchen, die sich zu dem wie von einem Meißel bearbeiteten Kinn hinunterzogen, der unsäglich trotzige und doch zarte Mund. Ich betrachtete dieses Gesicht, als wäre es eine mir vertraute und doch rätselhafte Landschaft, denn ich wußte wenig von Stüssi-Leupin, obgleich er einige Jahre mein Chef gewesen war, aber er hatte nie ein persönliches Wort mit mir gewechselt, vielleicht der Grund, weshalb ich nicht in seiner Kanzlei geblieben war.
Ich wartete. Plötzlich glotzten mich durch eine randlose Brille seine verwunderten Kinderaugen an.
«Warum trinken Sie denn nicht, Spät«, sagte er, hellwach, als hätte er nicht geschlafen (vielleicht hatte er auch nicht geschlafen),»schenken Sie sich ein, ich schenke mir ja auch ein.»
Wir tranken. Er beobachtete mich, schwieg und beobachtete mich.
Bevor wir auf die Schwierigkeit zu sprechen kämen, begann er und schaute vor sich hin, und er könne sich denken, worin sie bestünde, eine persönliche Bemerkung, die auch mit den Skrupeln zu tun habe, die mich jetzt plagten, derentwegen ich anmarschiert käme — na ja, auch nicht ganz richtig, ich sei ja mit einem Porsche vorgefahren, nobel, nobel.
Er lachte in sich hinein, irgend etwas schien ihn ungemein zu amüsieren, trank und fuhr fort, ob er mir je seine Lebensgeschichte erzählt habe. Nein? Wozu auch. Schön. Er sei der Sohn eines Bergbauern, und seine Familie nenne sich Stüssi-Leupin, um nicht mit den Stüssi-Bierlin verwechselt zu werden, mit denen seine Familie seit Menschengedenken in einem Streit um einen Kartoffelacker liege, der so steil sei, daß sie ihn jedes Jahr wieder herauf buckeln müßten, und das oft mehrere Male, der, habe man Glück, die Kartoffeln für drei, vier Röstis liefere, und dennoch werde um dessentwillen prozessiert, geprügelt und gemordet. Noch jetzt. Kurz und gut, junger Kollege, nach seinem Studium habe er sich gleich in seinem Heimatdorf als Rechtsanwalt angesiedelt, im Stüssi-Dorf, wie es genannt werde, seien doch nicht nur die Stüssi-Leupin mit den Stüssi-Bierlin, sondern auch die Stüssi-Moosi mit den Stüssi-Sütterlin verfeindet und so die ganzen Stüssis hindurch, doch das sei nur am Anfang gewesen, bei der Dorfgründung sozusagen, wenn es so eine je gegeben habe, heute sei jede Stüssi-Familie mit jeder anderen verkracht. Und in diesem Bergnest, Spät, in diesem Genist von Familienzwist, Mord, Inzest, Meineid, Diebstahl, Unterschlagung und Verleumdung habe er seine Lehrjahre als Bauernanwalt durchgemacht, als Fürsprecher, wie dort die Leute sagen, nicht um die Justiz in dieses Tal einzuführen, sondern um sie von ihm fernzuhalten, ein Bauer, der einen Unfall seiner Alten vortäusche und seine Magd heirate, oder eine Bäuerin den Knecht, nachdem sie ihren Alten mit Arsen auf den Friedhof gezaubert habe, nützten auf ihren Höfen mehr als im Gefängnis. Leere Gefängnisse kosteten den Staat weniger als volle, leere Bauernhöfe, und die Matten verfilzten und die Heimaterde rutsche ins Tal.
Er lachte vor sich hin.
«Himmel, ist das noch eine Zeit gewesen!«staunte er.»Da muß mich der Teufel reiten, und ich heirate eine von Melchior, gehe in unsere verschissene Stadt und werde Staranwalt. Wie ist das Wetter?»
«Föhn. Viel zu warm für den Dezember«, antwortete ich.»Wie im Frühling.»
«Gehen wir nach draußen?»
«Gern«, antwortete ich.
«Gehen ist vielleicht nicht gerade das richtige Wort«, meinte er, drückte auf einen Knopf in der Lehne seines Klubsessels, und die überdimensionierten Glaswände senkten sich in den Boden, die Scheinwerfer hinter den Findlingen erloschen. Wir saßen unter der freischwebenden Betondecke wie im Freien, nur von der Stehlampe beschienen.
Eine aufschneiderische Konstruktion, meinte er, vor sich hin starrend. Er komme sich wie der Führer in der Reichskanzlei vor. Aber was wollen Sie, Spät, als Staranwalt müsse er sich einen Van der Heussen leisten, obwohl ihm der Füdlibürger Friedli lieber wäre. Schicksal, komme man in Mode. Und nun sitze er allein hier. Einst habe es in dieser Halle ein Fest um das andere gegeben, die Leute im Städtchen hätten sich beschwert, auch Füdlibürger, bis — nun, das tue nichts zur Sache. Die Möbel habe er drauf hin fortschaffen lassen. Alles modernes Zeug.
Dann sagte er, sich Wein einschenkend:»Kommen wir zur Sache, Spät.»
Ich berichtete vom Auftrag Dr.h.c. Isaak Kohlers.
Er sei im Bild, unterbrach Stüssi-Leupin meine Ausführungen, trank, auch die Knulpes seien bei ihm gewesen. Über meinen Auftrag habe ihn Hélène unterrichtet, Kohlers Tochter, und die Recherchen Lienhards und Konsorten habe er auch studiert.